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#132   tttttttttt17.08.2005 - 12:24
Lesenswertes

Scholastika und Benedikt: - "Geh fort, wenn du kannst!"
Vortrag am 6.4.2003
Dr. Ursula Silber, Schmerlenbach

I. Einleitung
Hört man von "großen Paaren", so denkt man zunächst an Liebespaare: Ehepaare, Brautpaare, Liebespaare in allen Varianten.
Heute geht es um eine andere Paarbeziehung, nämlich ein Geschwisterpaar. Zwei, die aus einem Holz sind. Auch eine Liebesbeziehung, könnte man sagen - aber eine andere Art von Liebe, eine Liebe, die weniger erotische Anziehung beinhaltet als vielmehr Vertrautheit miteinander, sich kennen, zueinander stehen.
Mit dem Bruder oder der Schwester teilt man das Zuhause, die jeweilige Familiengeschichte, die Familienkultur, die Eltern, manchmal das Zimmer oder sogar das Bett, man teilt - mehr oder weniger freiwillig - die Spielsachen und die Süßigkeiten. Unter Geschwistern streitet man sich, als Kinder und oft auch noch als Erwachsene. Man steht oft in Konkurrenz zueinander, beneidet den oder die andere, fühlt sich zu kurz gekommen oder zurückgesetzt, verschaukelt oder gar betrogen. Geschwister sind Spielkameraden füreinander, Bezugspunkt, manchmal Verbündete gegen die Eltern. Geschwister untereinander kennen sich oft auch so gut wie sonst kaum Menschen - einfach, weil sie so viele Jahre und so eng miteinander gelebt haben in der Familie. Im Guten und im Bösen - die Geschwisterbeziehung ist schon etwas ganz besonderes.
In der Lebensbeschreibung von Benedikt und Scholastika wird ihre Beziehung ausdrücklich als Geschwisterlichkeit beschrieben und charakterisiert.

II. Biographisches
Über beide existieren nur wenige historische Fakten im modernen Sinn, sie haben auch keine eigenen Textdokumente hinterlassen (ausser der Regel).
Die einzige Quelle, aus der wir etwas über sie wissen, sind die "Heiligenlegenden" des hl. Gregor.
Der Papst mit dem Herzen eines Mönchs schrieb etwa zwei Menschenalter nach Benedikt und Scholastika "4 Bücher der Dialoge"; in ihnen erzählt er in fiktiven Gesprächen mit seinem Schüler Petrus die Lebensgeschichte und vor allem die Wunder verschiedener Heiliger. Seine Erzählabsicht dabei ist zu zeigen, dass auch Italien seine großen Heiligen hat, nicht nur das Heilige Land oder Südgallien, die damals die fruchtbarste Erde für Heilige lieferten.
Das 2. Buch dieser Dialoge ist mit 38 Kapiteln ganz allein Benedikt gewidmet.
Einige geschichtliche Ereignisse, Orte oder Namen lassen sich festmachen, so dass wir das Wirken Benedikts etwa um das Jahr 540 n.Chr. ansiedeln können.
Es ist die Zeit des Umbruchs von der Antike zum Mittelalter, die Zeit der Völkerwanderung. Die germanischen Goten fallen nach Italien und Südgallien ein: Kriegszüge, Kämpfe, Plünderungen sind die Folge. Kirchlich und religiös bringen die Goten die längst verurteilte Irrlehre des Arianismus wieder, quasi als zweite Konfession. Innerhalb der römischen Kirche gibt es eine Parteienspaltung, die in der Wahl zweier verschiedener Päpste gipfelt und längere Verwirrungen zur Folge hat.
Die Zeit ist aus den Fugen, und die Menschen damals haben das auch so empfunden und darunter gelitten.

Benedikt ist in diese dunkle und wirre Zeit hineingeboren, etwa zwischen den Jahren 480 und 490. Er stammt aus einer wohlhabenden Familie in Nursia, die ihn zum Jura-Studium nach Rom schicken wollte. Dort trifft der junge Benedikt auf eine Welt der Dekadenz, des Konsumrausches, der Parteienstreitigkeiten. Da will er sich nicht hinein ziehen lassen, hat keine Lust mehr, steigt aus. Er schließt sich zunächst einer Gruppe von Einsiedlern an, geht dann aber für drei Jahre ganz allein in eine Höhle. Ein benachbartes Kloster wirbt ihn als Abt an, was aber nicht gut geht und sogar in einem Mordversuch der Mönche an ihrem Abt endet. Nach diesem Zwischenspiel entschließt Benedikt sich zu einer eigenen Gründung: zunächst sind es 12 untereinander verbundene Kleinklöster in Subiaco, später gründet er - eine Neuheit - ein großes Kloster auf dem Monte Cassino.

Geschichtliche Wirkung hat mehr als die Person Benedikts die von ihm komponierte Regel für das monastische Leben. Sie ist ein Entwurf für ein gemeinschaftliches religiöses Leben, der lange (bis zu Franziskus) Grundlage für alle klösterlichen Regeln war und bis heute in vielen klösterlichen Gemeinschaften lebendig ist, in Männer- und Frauenklöstern, sozial aktiven und kontemplativen Kongregationen, katholischen und evangelischen Gemeinschaften, auf allen Kontinenten.
Die Benediktsregel will in einer Welt des Chaos, wie sie damals zur Zeit der Völkerwanderung herrschte, eine Lebens-Ordnung schaffen: Ordnung von Zeit und Raum, von Lebensstil und Alltagsritualen, auch geordnete Beziehungen. Gutes Leben braucht Richtschnur und Maß, braucht Gleichgewicht und Ausgewogenheit (zB. von Arbeit und Gebet). Ein gutes Leben braucht aber auch Kontinuität, das Aushalten und Dableiben, die Verwurzelung ("stabilitas".
Auf lateinisch lautet der Schlüsselbegriff der Benediktsregel: "Discretio". Discretio ist die Weisheit der Unterscheidung, Weisheit des Maßes. Was gut gut und was schadet, und in welchem Maß, nicht zu viel und nicht zu wenig, ob es sich dabei nun um das Beten, das Fasten, die Arbeit oder die tägliche Menge Wein handelt. Allzu viel ist ungesund! Auch oder gerade religiöser Eifer kann ja zu Fanatismus werden.
Der Schlüssel zur Regel, der Schlüssel zu einem guten Leben nach Benedikt ist eben diese Weisheit des Maßes und der Unterscheidung: die Nebensache nicht mit der Hauptsache zu verwechseln, den Weg nicht mit dem Ziel, die Mittel nicht mit dem Zweck.

Über Scholastika, Benedikts Schwester, besitzen wir keine eigenen Quellen oder Dokumente außer zwei Kapiteln in der Lebensbeschreibung ihres Bruders. Es heißt, sie sei schon als Kind "Gott geweiht worden", dh. sie ist wohl in einer religiösen Frauengemeinschaft aufgewachsen. Dennoch behält sie Kontakt mit ihrem Bruder: Einmal im Jahr besucht sie ihn, sie bleiben im Gespräch.
Die Legende sagt darüber hinaus, Benedikt und Scholastika seien im selben Jahr geboren: sollten es gar Zwillinge gewesen sein? Wie es auch gewesen sein mag, das Entscheidende ist jedenfalls die "Seelenverwandschaft" zwischen beiden, das eine der Geschwister bildet gleichsam "Zwillingsseele" des anderen. Diese enge Beziehung, das "in-Gott- verbunden-Sein", kann nicht einmal der Tod trennen; Scholastika und Benedikt werden in einem gemeinsamen Grab beigesetzt.

Wer in der Lebensbeschreibung Gregors eine historisch korrekte Biographie sucht, wird freilich enttäuscht sein; aufgeklärte Theologen warfen ihm gar "Wundersucht" in seinen Erzählungen vor. Damit werden wir ihm aber nicht gerecht, nicht in seiner Zeit und nicht in seiner Erzählabsicht. Gregor will nicht ein Porträt, sondern eine Ikone malen, in deren Ausdruck und Goldglanz sich etwas vom Himmlischen widerspiegelt und für uns Betrachter aufleuchtet. Man hat seine Lebensbeschreibung auch eine "Bildbiographie" genannt. Die Wundergeschichten besitzen innerhalb dieser narrativen Theologie ihre eigene Funktion: nicht dass Gott Wunder wirkt, sondern wie er sie wirkt, ist das Entscheidende, das, was eigentlich erzählt und verstanden werden soll.

In der Lebensbeschreibung des heiligen Benedikt werden 24 Wunder erzählt: 23 davon sind Wunder, die Benedikt wirkt und die illustrieren sollen, welche Art Mann und Gottesmann er war; das 24., letzte Wunder aber ist nicht sein Wunder, es ist das Wunder seiner Schwester Scholastika.

III. Die Begegnung
Ausgangspunkt für die Erzählung dieses 24. Wunders ist eine Frage des fiktiven Gesprächsartners in der Rahmenhandlung: "Können die heiligen Männer alles, was sie wollen? Bekommen sie alles, worum sie bitten?"
Die Antwort lautet erstaunlicherweise: Nein, auch Benedikt konnte nicht alles; auch er stieß an seine Grenzen, auch er fand seine Meisterin (wie auch schon der Meister Jesus seine Meisterin fand in der syrophönizischen Frau!) Und mit der verbündet sich auch noch der Himmel!

Hören wir ein Stück aus dem 33. Kapitel:
"Ich muss dir von dem ehrwürdigen Benedikt erzählen, dass auch er einmal etwas wollte, was er nicht vermochte.
Scholastika, die Schwester des heiligen Benedikt, war schon von Kindheit an dem allmächtigen Gott geweiht. Sie pflegte ihn einmal im Jahr zu besuchen. Der Mann Gottes stieg dann hinunter zu ihr, zu einem Klostergut, nicht weit von der Pforte.
Eines Tages kam sie nach ihrer Gewohnheit, ud ihr ehrwürdiger Bruder stieg mit seinen Schülern zu ihr hinab. Den ganzen Tag verbrachten sie im Lob Gottes und in heiligen Gesprächen. Abends, als es dunkel wurde, aßen sie miteinander. Während sie zu Tisch saßen und es über den heiligen Gesprächen immer später wurde, bat ihn seine Schwester, diese gottgeweihte Frau: "Ich bitte dich, verlass mich diese Nacht nicht, damit wir bis zum Morgen weiter von den Freuden des himmlischen Lebens sprechen können." Er aber erwiderte: Was sagst du da, Schwester? Unter keinen Umständen kann ich ausserhalb der Zelle bleiben!"
Der Himmel war so klar, dass nicht die kleinste Wolke an ihm zu sehen war.
Als die gottgeweihte Frau hörte, dass ihr Bruder sich weigerte, legte sie die gefalteten Hände auf den Tisch, den Kopf darauf, und flehte zum allmächtigen Gott. Als sie den Kopf wieder vom Tisch hochhob, brach ein derart gewaltiges Blitzen und Donnern los und ging ein solcher Wolkenbruch nieder, dass weder der ehrwürdige Benedikt noch die Brüder, die bei ihm waren, auch nur einen Fuß über die Schwelle des Hauses hätten setzen können, wo sie zusammen saßen.
Die gottgeweihte Frau hatte nämlich, als sie den Kopf auf die Hände gelegt hatte, solche Ströme von Tränen über den Tisch fließen lassen, dass sie aus der Klarheit des Himmels ganze Regenströme herab zog. Und diese Regenflut setzte nicht erst eine kleine Weile nach ihrem Beten ein, sondern so genau war das Losbrechen des Regens auf ihr Gebet abgestimmt, dass schon der erste Donnerschlag zu hören war, als sie den Kopf wieder hob. Und als sie sich aufrichtet, strömt der Regen bereits hernieder - beides in ein und demselben Augenblick.
Da nun der Mann Gottes sah, dass er unter solchen Blitzen, Donnern und strömendem Regen nicht zum Kloster zurück konnte, wurde er traurig und sagte vorwurfsvoll: "Der allmächtige Gott sei dir gnädig, Schwester. Was hast du da nur gemacht?" Sie aber antwortete ihm: "Schau, ich habe dich gebeten, aber du wolltest nicht auf mich hören. Da habe ich meinen Herrn gebeten, und er hat mich erhört. Geh doch, wenn du kannst, verlass mich und kehr zum Kloster zurück!"
Da er aber das schützende Dach nicht verlassen konnte, blieb er gezwungenermaßen, der freiwillig nicht hatte bleiben wollen. Und so kam es, dass sie die ganze Nacht durchwachten und sich durch heilige Gespräche über das geistliche Leben gegenseitig bestärkten.
Darum sagte ich vorhin, er habe etwas gewollt, was er nicht vermochte. Wenn wir nämlich vom inneren Willen des heiligen Mannes ausgehen, so wollte er zweifellos, dass das heitere Wetter, bei dem er gekommen war, andauern möge und er also unbehindert rechtzeitig zum Kloster zurück kehren könne. Doch im Gegensatz zu dem, was er selbst gewollt hatte, sah er sich mit einem Wunder konfrontiert, das im Herzen der Frau ihren Ursprung hatte - kraft der Allmacht Gottes. Es ist nicht verwunderlich, dass die Frau, die solche Sehnsucht hatte, ihren Bruder noch länger zu sehen, damals mehr vermochte als er. Denn nach einem Wort des Heiligen Johannes ist Gott die Liebe. Nach gerechtem Ratschluss also vermochte die am meisten, die am meisten liebte."

Die Szene erinnert zunächst an manche gefühlvollen Spielfilme. ER steht auf und sagt: "Ja, ich muss dann mal gehen." Worauf SIE in Tränen ausbricht. Selten jedoch geschieht in den Spielfilmen ein solches Wunder, das IHN am Fortgehen hindert und beide wieder ins Gespräch zurück führt.
Auch hier werden wir Zuschauer eines "Machtkampfes", zumindest eines Kräftemessens zwischen zwei anerkannt heiligen und gottgeweihten Personen.
Es gibt einen Konflikt zwischen beiden: Was ist jetzt wichtiger, das Gespräch oder die Rückkehr ins Kloster (und damit die Einhaltung der Regel)?

Benedikts Position ist klar und auch verständlich:
In der Nacht hat der Mönch in seiner Zelle zu sein und sich nicht draußen herum zu treiben; er soll das geheiligte nächtliche Stillschweigen bewahren und nicht stundenlang reden, und schon gar nicht essen und trinken außerhalb des Klosters!
Interessanterweise handelte gerade Benedikts erstes Wunder von diesem Thema: Der Mann Gottes entdeckt zwei Brüder, die sich noch spätabends außerhalb des Klosters aufhalten und unerlaubterweise bei einer Frau einkehren; als der heilige Mann ihnen im Nachhinein aber alles auf den Kopf zusagt und ihnen sogar die Zahl der Becher, die sie getrunken haben, nennen kann, ist ihnen die Regelwidrigkeit ein für alle Male ausgetrieben, heißt es.
Und Benedikt "hätte nie etwas anderes gelehrt, als er selbst lebte"! Da soll er jetzt die Regel brechen und einer Frau wegen außerhalb des Klosters bleiben, mit ihr essen und trinken und Gespräche führen? Disziplin und Konsequenz sind eigentlich seine hervorstechenden Eigenschaften, und davon will er sich auch nicht durch die eigene Schwester abhalten lassen!

Scholastika sieht das anders. Sie sieht und spürt in diesem Moment die Notwendigkeit, weiter mit ihrem Bruder zusammen zu sein, das Gespräch weiter zu führen, die spirituellen Erfahrungen und Visionen miteinander zu teilen. Und vielleicht mag sie schon gewusst haben, dass sie nur ein paar Tage später die himmlischen Freuden, über die sie sprechen möchte, aus eigener Anschauung kennen lernen sollte, dass es jedenfalls auf Erden die letzte Gelegenheit des Zusammenseins mit ihrem Bruder sein würde. Jedenfalls hat sie, wie Gregor schreibt, eine große Sehnsucht.

Benedikt will das nicht gelten lassen. Aber Scholastika verbündet sich mit dem Himmel, und der ist auf ihrer Seite. Die himmlischen Gewalten zwingen Benedikt kurzerhand, im Haus zu bleiben. Fast zeitgleich mit dem Tränenstrom der Frau strömt der Regen. Dabei sollten wir vorsichtigerweise schauen, was diese Tränen bei Gregor bedeuten: Da handelt es sich nicht um eine Frau, die nun mal nah ans Wasser gebaut hat und nun vor Enttäuschung und Traurigkeit zu weinen beginnt, erst recht nicht um eine typisch weibliche Waffe, die hier eingesetzt wird. Nein, Tränen werden in anderem Zusammenhang auch von Benedikt selbst berichtet, sie sind ein Zeichen für ein intensives Bewegtsein, sehr oft auch für die Intensität des Gebetes. Scholastika fühlt also ganz intensiv, sie sehnt sich intensiv, und so betet sie auch intensiv. Gregor interpretiert es für uns: Kein Wunder, dieses Wunder: denn Scholastika liebt, liebt so intensiv, dass sie mehr vermag als ihr Bruder, dass selbst Gott auf ihrer Seite ist.
Die Liebe ist das Größte aller Wunder.
Das zeigt die kleine Schwester ihrem großen Bruder, dem Wundermann, der genau da an seine Grenze gestoßen ist. Und sie zeigt es ihm selbstbewusst und gewiss mit einem schelmischen Lächeln, wenn sie sagt: "Geh doch, geh fort, wenn du kannst! Ich habe dich gebeten, und du wolltest nicht auf mich hören, und da habe ich Gott gebeten, und er hat mich erhört!"
Einem Missverständnis muss dabei allerdings vorgebeugt werden: Es geht nicht um eine Haltung des laissez-faire, die die Regeln immer gerade so auslegt oder auch ignoriert, wie es ihr passt. Die ganze Lebensbeschreibung Benedikts erzählt uns, wie großartig und heilsam das geregelte Leben ist - mit dieser einen Ausnahme, die quasi das i-Tüpfelchen darstellt.
Kommen wir noch einmal zum Schlüsselbegriff der "discretio" zurück, der Weisheit des Maßes. In dieser konkreten Situation erweist sich Scholastika als diejenige, die die größere discretio besitzt, weil sie mehr liebt. Sie weiss besser, was jetzt dran ist. In der Spannung von Weggehen und Dableiben, Festhalten und Loslassen hat sie ein Gespür dafür, dass das regel-gemäße Weggehen jetzt im Grunde ein Weglaufen und Verlassen wäre, dass jetzt nicht Abschied und Trennung anstehen, sondern noch ein bisschen mehr gemeinsame Zeit. Scholastika weiß: Liebe bedeutet Loslassen können, aber auch Verbindlichkeit in einer Beziehung. Es ist eine Weisheit des Herzens, die aus der Liebe kommt und die nun klar erkennt, was notwendig ist. Und das sieht auch Gott so.

IV. Ausklang
Der Scholastika-Tag am 10. Februar ist in vielen Klöstern das Fest der Novizen und Novizinnen. Schüler und Lehrer tauschen die Rollen, jung und alt, oben und unten.
Es ist ein Rollentausch mit einem Augenzwinkern, aber auch mit einer tiefen Weisheit: die Weisheit des Ungeplanten und Unplanbaren, die Weisheit der Liebe und Sehnsucht, die sich manchmal über die Regeln hinweg setzt und hinweg setzen muss.
Der benediktinische Grund-Satz "Gott suchen in allen Dingen", er gilt eben auch für die Situation. Gott suchen muss ich auch in dem, was gerade jetzt dran ist. Spüren, was der Moment erfordert, vor allem aber: was mein Gegenüber, was der andere Mensch braucht.
Das ist sicher schwieriger als der Gehorsam gegenüber Regeln und Geboten, soweit es ein Buchstaben-Gehorsam ist.
Es fordert von mir Wachheit, Aufmerksamkeit für den Augenblick und den anderen Menschen. Es braucht discretio als Gabe der Unterscheidung, es braucht Mut - und vielleicht auch das Augenzwinkern der Heiligen Scholastika, das um die himmlische Rückendeckung weiß - selbstbewusst, aber nicht selbstgerecht . Die meisten großen Frauen und Männer sind nicht heilig geworden durch reine Konformität, eher schon durch unkonventionelles, manchmal geradezu skandalöses Verhalten. Nicht um der Provokation willen, nicht um des Regelbruchs willen, sondern um der Liebe willen.
Wo die Blume der Sehnsucht und die Liebe größer wächst als das Spalier der Regel, da verlässt sie diese Rankhilfe und wächst geradewegs in den Himmel hinein.


"Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht!"

Friedensgebet an Mariae Verkündigung, 24.3.2003

Die Lesung aus dem Jesajabuch passt in unsere Zeit, denn sie führt uns in die Situation der militärischen Bedrohung Jerusalems. Da erhält der Prophet von Gott den Auftrag, den König aufzusuchen, der gerade dabei ist, die Befestigungsanlagen seiner Stadt zu kontrollieren. Er soll ihm ein Heilswort verkünden, er soll ihm Mut machen. Aber nicht, weil sich der Herrscher bislang bestens auf den drohenden Krieg mit den Assyrern vorbereitet hätte und sich deshalb der tollkühnen Hoffnung hingeben dürfte der damaligen Weltmacht widerstehen zu können. Das alles nicht!

Er soll ihm vielmehr Gottes Zusage bringen, der seine Hand schützend über die Nachkommen des König David, also auch über ihn, den regierenden König, halten wird. Noch einmal: nicht die Zuflucht zu militärischer Rüstung oder die Überredungskünste einer Diplomatie nach amerikanischem Strickmuster sind gefragt, sondern allein das Vertrauen auf den Gott, der verheißen hat, bei der Dynastie Davids zu sein, ihr die Treue zu wahren.

Was Jesaja zu sagen hat, gipfelt in dem Satz: "Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht!" - oder genauer: "Macht ihr euch nicht fest" - nämlich in Gott - "so bleibt ihr nicht fest", "so habt ihr keinen Bestand mehr". Dieser Anspruch ist zeitlos und gilt für das 7. Jahrhundert vor Christus, in dem Jesaja lebte, genauso wie für das Jahr 2003.

Wir erleben seit vergangenem Mittwoch die Verweigerung gegenüber diesem Anspruch, wie das Vertrauen einem Krieg gilt, einem vermeintlichen Blitzkrieg sogar. Wir erleben wie nun überlegener Rüstung, wie der Taktik von Kampfverbänden, wie diplomatischen Drahtseilakten und Milliarden von Dollars an Stillhaltegeldern die oberste Priorität zukommt. Natürlich wird in diesem Zusammenhang auch Gott angerufen. Schließlich kämpfen beide Seiten für eine scheinbar gute Sache, aber damit ist das noch größere Übel unserer Tage angerissen: die Anmaßung, die Welt in Gute und Böse einteilen und die Beseitigung der letzteren im Rahmen eines "Abrüstungskrieges" in Anspruch nehmen zu können. Natürlich gilt das in gleicher Weise für den nun von der Gegenseite ausgerufenen "Heiligen Krieg".

Welcher Krieg war jemals "heilig", welcher im letzten wirklich "gerecht"?
Der König sieht sich außer Stande das von Jesaja geforderte Gottvertrauen aufbringen zu können. Da kündigt ihm der Prophet an, dass Gott von sich aus ein Zeichen setzen wird. "Die junge Frau" - so heißt es im hebräischen Original - "wird ein Kind empfangen, sie wird einen Sohn gebären, und sie wird ihm den Namen Immanuel (Gott mit uns) geben."

Gemeint war wohl die junge Frau des Königs. Ihr Kind soll mit dem Namen Immanuel ausgezeichnet werden. Denn in seiner Geburt wird sich zeigen, dass Gott bei seinem Volke ist. In einer späteren Zeit, nach dem Untergang Jerusalems, wurde dieses Zeichen umgedeutet auf die Erwartung eines endzeitlichen Friedenskönigs, des Messias: er sollte die Herrschaft Gottes, das Heil für alle Menschen heraufführen. Die ersten Christen haben in Jesus diesen verheißenen Friedensbringer erkannt.

Von ihm hören wir im Evangelium: "Er wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden. Gott, der Herr, wird ihm den Thron seines Vaters David geben. Er wird über das Haus Jakob herrschen, und seine Herrschaft wird keine Ende haben." Das heißt in unsere Situation hineingesprochen: Er wird das letzte Wort haben; was auch immer zur Rechtfertigung dieses Krieges gesagt worden ist und was auch immer wir noch zu hören bekommen, vor ihm müssen sich all jene verantworten, die sich für die Anwendung militärischer Gewalt auf ihn berufen; aber genauso werden sich all jene rechtfertigen müssen, die ihr Vertrauen allein auf ihre militärische oder "moralische" Überlegenheit setzen.

Das mag sehr apodiktisch, sehr schroff, vielleicht sogar anmaßend klingen. Das innerste Geheimnis des Festes Mariae Verkündigung besteht darin, dass Gott selbst Mensch geworden ist, um den Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt zu durchbrechen. Dem, meine ich, sollten wir auch 2000 Jahre nach seiner Geburt noch Beachtung schenken und alles nur Mögliche für die Vermeidung weiterer Kriege tun!

Stefan-B. Eirich, Geistlicher Leiter

#131   ttttt17.08.2005 - 12:22
Liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der Sommerakademie!


Ich beginne mit einem kleinen Bekenntnis zum Thema Schöpfungsspiritualität. Am Morgen lesen mein Mann und ich täglich einen Abschnitt aus der Bibel, fortlaufend, um dieses große und wunderbare Buch immer besser kennenzulernen und darin zu leben. So möchte ich Ihnen einen Text vorlesen über das Wasser des Lebens: Er steht im allerletzten Kapitel der Bibel: im Buch der Offenbarung im 22. Kapitel: Nachdem der Seher Johannes das neue Jerusalem gesehen hat, die Stadt mit den zwölf herrlichen, immer offenen Toren, hinter denen das Leben transparent und einsehbar vor sich geht, heißt es im Text

"Und der Engel zeigte mir einen Strom, das Wasser des Lebens, klar wie Kristall; es geht vom Thron Gottes und des Lammes aus. Zwischen der Straße der Stadt und dem Strom hüben und drüben stehen Bäume des Lebens. Zwölfmal tragen sie Früchte, jeden Monat einmal; und die Blätter der Bäume dienen zur Heilung der Völker." Offenbarung 22, 1-2

Nichts Tröstlicheres gibt es für mich, angesichts der Katastrophen, die die Morgenzeitung meldet, als dies zu hören: Das Wasser des Lebens bewässert die Bäume, die überreichlich Frucht tragen, und die Blätter dieser vom Wasser des Lebens gespeisten Bäume dienen der Heilung der Völker. Die Natur hilft uns, die von Menschen angestiftete Zwietracht zu heilen. Was würden wir ohne sie tun? Das ist die Botschaft vom Wasser des Lebens.

Nach der Bibellese lesen wir, wenn die Zeit es erlaubt, aus einem Buch mit dem Titel: "Earth Prayers", um die Bewahrung der Schöpfung in unser Denken und unsere Spiritualität einzubeziehen.


Water. Lakes and rivers. Oceans and streams. Springs, pools and gullies. Arroyos, creeks, watersheds. Pacific. Atlantic. Mediterranean. Indian. Caribbean. China Sea. (Lying. Dreaming on shallow shores.) Arctic. Antarctic. Baltic. Mississippi. Amazon. Columbia. Nile. Thames. Sacramento. Snake. (Undulant woman river.) Seine Rio Grande. McKenzie. Ohio. Hudson. Po. Rhine. Rhone. Rain. After a lifetime of drought cleanses the air... Water. Water of Earth. Water of life.

Earth Prayer, Seite 143, von Paula Gunn Allen.



1. Nachdenken über den Zustand der Erde:

Sie haben sich schon viele Gedanken gemacht und wissen sicher genauer und umfangreicher als ich, wie der Zustand unserer Erde und unseres Wassers ist. Bei der Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes in Winnipeg, dem Zusammenschluß der weltweiten lutherischen Familie, bei der es um die "Heilung der Welt" ging, wurde festgestellt:

Die Schöpfung heilen: Auch die verwundete Schöpfung bedarf dringendst der Heilung. Die Erde wird auf Grund der Habgier der Menschen, ihrer Unwissenheit, der Übervölkerung und auch der Kriege als Folge von übermäßigem Konsum fortgesetzt weiter verschmutzt, was fatale Auswirkungen wie Dürre, Wüstenbildung, das Aussterben von Tiergattungen, Armut und Hunger nach sich zieht. Wir bekennen, dass wir Anteil haben an der Ausbeutung und Zerstörung der Natur. Allzu oft behandeln wir die Schöpfung als Objekt, das für unsere Zwecke zur Verfügung steht, und bringen ihr Wunden bei, anstatt dass wir uns selbst als Teil von Gottes kostbarer Gabe der Schöpfung wahrnehmen. Zu dieser Realität beigetragen haben irreführende theologische Haltungen: dass nämlich nur der Himmel eine Rolle spiele und nicht die Erde, dass die Menschen sich die ganze Schöpfung nutzbar und untertan machen sollen, einschließlich der menschlichen und ökologischen Beziehungen, und dass sich Gottes Erlösung allein auf die Menschen bezieht.

Lutherischer Weltbund, Vollversammlung 2003 in Winnipeg/Kanada Seite 16 24/2003 epd-Dokumentation


Dies ist eine Zustandsbeschreibung, die zugleich auch einige theologische Fehlentwicklungen anmahnt, auf die ich heute morgen eingehen möchte. Über den Zustand der Erde möchte ich aus der Rede des Chief Seattle zitieren:

Wir wissen, daß der weiße Mann unsere Art nicht versteht. Ein Teil des Landes ist ihm gleich jedem anderen, denn er ist ein Fremder, der kommt in der Nacht und nimmt von der Erde, was immer er braucht. Die Erde ist sein Bruder nicht, sondern Feind, und wenn er sie erobert hat, schreitet er weiter. Er läßt die Gräber seiner Väter zurück - und kümmert sich nicht. Er stiehlt die Erde von seinen Kindern - und kümmert sich nicht. Seiner Väter Gräber und seiner Kinder Geburtsrecht sind vergessen. Er behandelt seine Mutter, die Erde, und seinen Bruder, den Himmel, wie Dinge zum Kaufen und Plündern, zum Verkaufen wie Schafe oder glänzende Perlen. Sein Hunger wird die Erde verschlingen und nichts zurücklassen als eine Wüste. Aus der Rede des Häuptlings Seattle, Seite 17/18


Der Lutherische Weltbund hat mit vielen anderen darauf verwiesen, daß die westliche Theologie von der Weisheit und Spiritualität der indigenen Völker einiges zu lernen habe. Auch die weisheitliche Theologie unserer eigenen Tradition trägt dazu bei, wie z.B. der 104. Psalm. Dazu müssten wir einiges verlernen: Verlernen müssen wir das Konzept der Beherrschung und Vorherrschaft, das in meinen Augen fälschlicherweise mit dem Schöpfungsauftrag verbunden wird "Machet euch die Erde untertan", der in säkularisierter Form bei Descartes lautet, daß die Menschen "maitres et possesseurs de la nature" seien, Herr, Benutzer und Besitzer der Natur. Zu lernen ist eine andere Positionierung des Menschen im Kosmos. _

Was hätten wir zu lernen? Den Satz: "Wir sind ein Teil der Erde und sie ist ein Teil von uns." In einem Text eines Vertreters der asiatischen Indigenous Peoples spricht sich das ökologische Selbst so aus:

I am a feather on the bright sky I am the blue horse that runs in the plain I am the fish that rolls, shining, in the water I am the shadow that follows a child I am the evening light, the lustre of meadows I am an eagle playing with the wind I am a cluster of bright beads I am the farthest star I am the cold of the dawn I am the roaring of the rain I am the glitter on the crust of the snow I am the long track of the moon in a lake I am a flame of four colors I am a deer standing away in the dusk I am a field of sumac and the pomme blanche I am an angle of geese in the winter sky I am the hunger of a young wolf I am the whole dream of these things

You see, I am alive, I am alive...

N. SCOTT MOMADAY, Earth Prayers, Seite 8


Deshalb ist die Konsequenz schlicht und einleuchtend: "Was die Erde befällt, befällt auch die Söhne (Kinder) der Erde. Der Mensch schuf nicht das Gewebe des Lebens, er ist darin nur eine Faser... Was immer Ihr dem Gewebe antut, das tut Ihr Euch selber an". (Seattle, S. 26) Schließlich sind wir angewiesen auf die Zuwendung der Natur und Schöpfung zu uns. "Was ist der Mensch ohne die Tiere? Wären alle Tiere fort, so stürbe der Mensch an großer Einsamkeit des Geistes. Was immer den Tieren geschieht, geschieht bald auch den Menschen. Alle Dinge sind miteinander verbunden". (Seattle S. 24)

Die Wissenschaft geht inzwischen wohl immer mehr auch von dem Tatbestand aus, daß die Erde als ganzer Planet sich wie ein einheitlicher Organismus verhält. Das methodische Vorgehen, durch Trennung, Separierung, Sezierung dem Wesen der Dinge auf den Grund zu kommen - wie wieder sichtbar in den Ausstellungen "Körperwelten", bedient das Wissensinteresse, das in immer kleinere Einheiten des Lebens vordringt. Aber dient es dem Verstehen der Zusammenhänge des Lebens?

Einer der wichtigsten Sätze für das Verstehen von Zusammenhängen sowohl im Persönlichen, im Politischen, in der Geschichte und auch der Kirche, ist für mich der Satz: only connect.

Das Paradigma des Separierens ist an seine Grenzen gekommen, wo es dem Leben nicht mehr automatisch dient und den Anspruch, dies zu tun, aufgeben muß. Angesichts der ökologischen Zerstörungen müssen andere Methoden der Erkenntnisgewinnung und Heilung ausprobiert und durchgesetzt werden, Methoden, die sich an dem Satz orientieren: only connect. Eine fragmentierte Welt ruft nach heilender Verbindung.

2. Nachdenken über den Zustand von Kirche und Theologie.

Ob wir es gerne hören oder nicht: Wir erleben heute die Krise des Christentums in der postmodernen Gesellschaft. Manche nennen das gegenwärtige Zeitalter gar das "nach-christliche". Die Institutionen, nicht nur die Kirchen, sind in einer Krise. Die Fähigkeit, Sinn zu stiften, die Gegenwartskrisen mit der religiösen Sprache und Symbolik aufzuschließen und zu deuten, ist in eine Krise geraten. Neue Formen der Theologie, z.B. Feministische Theologie und Verkündigung, die sich kontextbezogen diesen Krisen zuwenden - wenn es sie denn gibt - sind bisher kaum mehrheitsfähig in den "mainstream" von Lehren und Lernen, Liturgie und kirchlichen Alltag eingezogen. Die ökologischen Katastrophen können auch nicht mehr nur durch ein paar Aktivisten bearbeitet werden. Der "mainstream" der Gesellschaft und auch der "mainstream" der Theologie und Kirche muß sich diesen Herausforderungen stellen, wenn Heilung möglich sein soll. Als Frau der Kirche suche ich in meiner Tradition nach Hilfe aus der Krise: Die Antworten von gestern beantworten auch meine Fragen nicht. Das Verständnis des Herrschaftsauftrags angesichts einer bis zur Totalität beherrschten Natur beantwortet meine geistlichen Fragen nicht mehr. Die Weigerung, diese Krise überhaupt theologisch wahrzunehmen und zu bearbeiten, ist Teil des Problems. Die christliche Tradition, die Bibel, antworten auf sehr verschiedene Lebenssituationen. Die Antwort hängt von der Frage ab.

Im 5. Mosebuch wird das Volk Israel von Gott vor eine entscheidende Frage gestellt, die auch heute ihre existentielle Direktheit nicht verloren hat: "Ich nehme Himmel und Erde heute über euch zu Zeugen. Ich habe euch Leben und Tod, Segen und Fluch vorgelegt, damit du das Leben wählst und am Leben bleibst, du und deine Nachkommen" 5.Mose 30, 19. Wir werden noch immer neu vor die Frage gestellt: Wählt das Leben, das eigene und das für andere. Leben heißt am Anfang des 21. Jahrhunderts: nicht Beherrschung, sondern Bewahrung, Achtsamkeit, Respekt.


3. Persönlicher Kontext

Ich möchte auch etwas zu meinem persönlichen Kontext sagen: Als Bischöfin bin ich privilegiert, mit vielen Menschen zusammenzukommen. Ich sammle Lebenserfahrungen anderer Menschen ein, ich höre, transportiere, verknüpfe. Ich bin eine Rohrpoststelle (manchmal ist sie verstopft...). Leider habe ich nicht viel Zeit zum Lesen, das Privileg der Studierstube ist für mich geschrumpft zugunsten der Begegnung mit Menschen. Deshalb bin ich auf den Dialog angewiesen.

In der ökumenischen Bewegung habe ich gelernt und mich dafür eingesetzt, den Streit zwischen den Friedensaktivisten der 8oer Jahre in Europa und Amerika, den Gerechtigkeitskämpfern der Dritten Welt und den AnwältInnen der Schöpfungsbewahrung zu beenden. Und in der Tat wurde bei der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Vancouver 1981 das Konzept geprägt, das im kirchlichen Denken seither eine zentrale Rolle gespielt hat: der konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. In der Tat war die Einsicht gewachsen, daß alle Verstörungen in diesen Bereichen der Menschheitsfamilie eine gemeinsame Wurzel haben: die Selbstbezogenheit des Menschen, seine Habgier, sein Dominanzverhalten, seine Herrschsucht, der Mangel an Ehrfurcht, an Achtung, an einer Frömmigkeit, der noch etwas "heilig" ist. Der in den biblischen Texten eingeklagte Abfall der Menschen von den Weisungen Gottes führt dazu. Die schon in den biblischen Texten beschriebenen und angekündigten Katastrophen sind keine Strafen Gottes, sondern die den Taten selbst innewohnenden Folgen. Die Naturkatastrophen sind nicht Schicksal, sondern Folgen der Taten bzw. Untaten der Menschen.

Hört das Wort JHWHs, ihr Israeliten! Denn einen Rechtsstreit hat JHWH mit den Bewohnern des Landes. Denn es gibt keine Zuverlässigkeit, und es gibt keine Solidarität, es gibt kein Wissen um Gott im Lande. Verfluchen, Betrügen, Morden, Stehlen und Ehebrechen - das ist eingerissen, und Bluttat reiht sich an Bluttat. Darum wird das Land verdorren und vertrocknen alles, was darin wohnt, samt dem Wildgetier des Feldes und den Vögeln des Himmels, ja, auch die Fische des Meeres werden hinweggerafft! (Hosea 4,1-3 )

J.Ebach, Ökologische Theologie, Seite 100


Zu den Einsichten der ökumenischen Bewegung kamen die Einsichten der Feministischen Theologie und in den 90er Jahren, besonders die Einsichten eines gerade in Lateinamerika sich entwickelnden Ökofeminismus, der die Anliegen der Frauen, der Umweltbewegung mit denen der "2/3 Welt" verbindet. Ihre Stichworte sind: keine hierarchische Beherrschung, die Verbundenheit aller Dinge, Gegenseitigkeit, Sinnlichkeit (gegen den rein denkerischen Umgang mit dem Leben). Ich war lange Zeit eine Menschenrechtsaktivistin. Die Zerstörung menschlichen Lebens erschien mir immer so viel schlimmer. Aber mit zunehmender Sensibilität schmerzt es mich, sterbende Vögel zu sehen, es empören mich Flüsse voller Schaum, in enge Käfige gesperrte Tiere, das Töten von tausenden von Kühen, Schweinen und Hühnern infolge der entsprechenden Krankheiten. Darüber habe ich schon viele Tränen vergossen.

Ich habe die Perspektive verlassen, alles existiere nur um des Menschen willen. Alles Leben ist miteinander verbunden. Die Gewalt gegen Tiere richtet etwas in uns an. Der Verlust der Erfahrung von Schönheit in der Schöpfung behindert uns, für das Leben zu kämpfen. Schönheitserfahrung ist eine Quelle der Gottverbundenheit und der Kraft.


Kleine Katzen

Als ich die vier kleinen schwarzen Katzen fordernd nach den Zitzen ihrer Mutter springen sah

und mit winzigem Miauen ihr freches Spiel unter der Bank treiben,

sank mir der Mut.

Wo werden unsere katzenlosen Computer&64979;Kinder in Zukunft die Lust hernehmen, für ihre Erde zu kämpfen?

Bärbel Wartenberg-Potter, Wir werden unsere Harfen nicht an die Weiden hängen, Seite 90

Wir müssen uns erlauben, den Schmerz zu fühlen über das mißbrauchte und zerstörte Leben. Erst dann können wir beginnen, die Mutter Erde zu retten. Die compassion, die Mitleidenschaft, die Mitleidensfähigkeit ist die Voraussetzung für jedes solide Engagement in diesen Fragen wie in jeder Frage menschlicher Solidarität.

Als Bischöfin ist mir dabei besonders wichtig: ein neues Verständnis für das Heilige zu finden. Die tiefsten religiösen Überzeugungen müssen geweckt werden. Die Verknüpfung der Anliegen. Only connect. Das theologische Paradigma muß geändert werden, weil das bisherige Paradigma nicht in der Lage ist, mit der ökologischen Krise fertig zu werden. Wir reagieren auf den uns umgebenden Kontext.

Dazu möchte ich nun einige Stichworte nennen, es können nur Stichworte sein, aber sie wollen die Richtung andeuten, in denen theologisches Denken sich bewegen müßte, um auf die Krisen der Gegenwart zu antworten.


4. Theologische Fragen

Die Theologiegeschichte ist eine von patriarchalen Werten geprägte Geschichte. Für den Umgang mit der Schöpfung ist diese Einsicht von großer Wichtigkeit: Denn im Mittelpunkt patriarchalen Denkens steht der männliche Mensch als Krone der Schöpfung. Patriarchale Theologie hat eine Hierarchie der Werte aufgebaut: An der Spitze steht der Mensch, zuerst der männliche, dann der weibliche Mensch, dann kommen die Tiere, dann die übrige Natur. Die Natur ist soviel weniger wert als der männliche Mensch. Die Pyramide kam auch im Blick auf die Rassen zur Geltung. An der Spitze stand der weiße, es folgte der gemischtrassische, dann der schwarze Mensch, dann die Tiere usw. Die Phantasien der Menschheit, die sich auf Omnipotenz, Omnipräsenz, Alleswissen ausgerichtet haben und einhergehen mit der Hierarchisierung der Werte, haben die einfachen Sätze, die der Club von Rom in den 60iger Jahren aufgestellt hat, unterdrückt, nämlich: "Auf einer endlichen Erde kann es kein unendliches Wachstum geben". Nur wer die Begrenztheit des Lebens als ein zu überwindendes Hindernis ansieht, leistet solche Verdrängung.

Frauen wurden in diesem Denksystem oft als Teil der Natur angesehen , während der männliche Mensch den Geist verkörpert. Die Spaltung zwischen Geist und Natur hat auch zu einem Dualismus der Geschlechter geführt. Deshalb sind Frauen auch in der Schöpfungsbewegung oft aktiver. Ein Denksystem, das seine Kraft zur Deutung der Gegenwart verloren hat und dem Leben keine Bedeutung mehr geben kann, muß verändert werden. Das neue Paradigma ökofeministischen Denkens stellt fest: Alle Dinge sind miteinander verbunden und voneinander abhängig. Die Schöpfung ist ein Netz. Ein Paradigma, das nicht bei der Begrenztheit und den Grenzen ansetzt, ist nicht mehr zukunftsfähig. Die Bibel gibt immer Antworten auf Menschheitsfragen: In Zeiten totaler Beherrschung, die die Ökosysteme in den Zusammenbruch führen, müssen wir die Theologie der Beherrschung beenden, wenn wir eine Botschaft des Lebens verkünden wollen. Und in der Tat lag in ihrer Ausgestaltung auch ein Stück Mißverstehen, als ob es sich um ewige Schöpfungsordnungen, und nicht um kontextbezogene Antworten auf Menschheitsfragen gehandelt hätte.



5. Gerechtigkeitsdenken der Bibel

In diesem Zusammenhang versteht man biblisches Denken besser, wenn man sich dem sprachlichen Befund der Bibel zuwendet. Die ganze Bibel spricht vom gerechten Handeln Gottes und den gerechten Beziehungen zwischen Gott und den Menschen (und der Schöpfung).

Gerhard v. Rad, der große Alttestamentler, hat uns dies bleibend gelehrt: "Es gibt im AT keinen Begriff von so zentraler Bedeutung schlechthin für alle Lebensbeziehungen des Menschen wie den der sedaka (Gerechtigkeit). Er ist der Maßstab nicht nur für das Verhältnis des Menschen zu Gott, sondern auch für das Verhältnis der Menschen untereinander bis hin zu der belanglosesten Streiterei, ja auch für das Verhältnis des Menschen zu den Tieren und zu seiner naturhaften Umwelt. Sedaka kann man ohne weiteres als den höchsten Lebenswert bezeichnen, als das, worauf alles Leben, wenn es in Ordnung ist, ruht." (v. Rad, Theologie des AT Bd. I, S. 382)

Dabei ist keine absolute, ideelle Norm gemeint. Es ist, wie die meisten Wörter in der Hebräischen Bibel, ein Beziehungswort und orientiert sich "an dem jeweiligen Gemeinschaftsverhältnis selbst, in dem sich der Partner gerade zu bewähren hatte." (v. Rad, Theologie des AT, Bd. 1, S. 383) Sozusagen am Bedürfnis des Gegenübers.

"Jedes Verhältnis bringt bestimmte Ansprüche an das Verhalten mit sich, und die Befriedigung dieser Ansprüche, welche sich aus dem Verhältnis ergeben und bei welcher allein das Verhältnis bestehen kann, wird mit... sedaka (Gerechtigkeit) bezeichnet... Gerecht ist, wer den besonderen Ansprüchen, die dieses Gemeinschaftsverhältnis an ihn stellt, gerecht wird." (v. Rad, Theologie des AT, Bd. 1, S. 383)

Diese Beziehung erstreckt sich im biblischen Denken immer auch auf die natürliche Mitwelt. Die dualistische Trennung Geist - Mensch - Natur ist im abendländischen Denken erst viel später vollzogen worden. Ein gerechter Hirte z.B. ist der, der seinen Schafen gute Weide verschafft und sie vor dem Wolf beschützt. Deshalb muß jedes Lebewesen seinen Raum haben, den ihm der Mensch nicht letztlich nehmen darf. Deshalb also braucht auch eine Schnecke ihr "oikos", ihr Haus, deshalb braucht sie "Schneckenrechte" und wir werden der Schnecke gerecht, wenn wir ihren Bedürfnissen und ihrem Lebensraumbedarf gerecht werden. Dann sind wir im Verhältnis zu der Schnecke gerechte Menschen.

" Good and just means today, limits, balancing our lives with others lifesustaining harmony. The wisdom of nature lies in the development of builtin-limits through a diversity of beings in interrelation, so that none outruns its own niche." (R. Ruether) Deshalb müssen die Menschen zu Mitgeschöpfen werden und ihre "niche", den ihnen zustehenden Raum wieder entdecken und akzeptieren.

Die Feministische Theologie hat dazu folgende Stichworte in den Diskurs eingebracht:

1. Gott ist nicht isoliert von der Schöpfung zu denken, sondern Gott in Beziehung, mit uns. 2. Göttliche Gegenwart ist dort, wo gutes und gerechtes Leben für alle gewollt und ermöglicht wird. 3. Gott ist in der Natur gegenwärtig. Dieses Verständnis muß nicht abgetrennt werden vom Gott in der Geschichte. 4. Es ist wichtig, von anderen Völkern und Religionen besonders im Blick auf ihre Fähigkeit der Bewahrung und des Respekts für die Erde zu lernen. 5. Von Kindern zu lernen, deren Wissen durch unsere Erziehung abtrainiert wird. Lernen von den Kindern und der Kindheit. Es geht nichts verloren. Es gibt immer einen großen, umfassenden Raum. "Von allen Seiten umgibst Du mich".

Als Kind hatte ich mir die Welt in einem wunderbaren Gefüge vorgestellt. Inwendig in meinem Körper, so dachte ich, sei alles ganz hohl. In diesem Hohlraum befinde sich nun eine ganze Welt mit Menschen, Häusern, Bäumen, Seen, Tieren, Himmel, genauso wie ich es um mich herum sah. Aber die Leute in meinem Inneren wußten nicht, daß sie nur im Raum meines Körpers lebten. Ich selbst wiederum und meine Schwestern, Eltern, das Dorf und die Wälder, der See, wir alle waren im Hohlraum einer anderen, riesigen Person, und diese wiederum wohnte in einem nächstgrößeren Körper. Es war so wie bei den russischen »Puppen in der Puppe«. Eine endlose Kette von Welten war so ineinander geschachtelt. Ich ganz allein schien dieses Geheimnis zu wissen, denn niemand hatte es mir erzählt, niemand sprach darüber. Soviel aber verstand ich: Was immer auch geschah in der Welt, in der ich lebte, ich war ganz sicher, daß nichts jemals verlorengehen konnte. Denn da war immer ein weiter, schützender Raum, der letztlich alles umgab. Ich selbst aber, auch dessen war ich sicher, hatte die Aufgabe, einen solchen schützenden Raum für die Welt in meinem Inneren abzugeben.

Niemals habe ich diesem alles umfassenden, schützenden Raum einen Namen gegeben. Heute aber weiß ich: Es war ein Bild für Gott, das ich als Kind, wer weiß woher, gefunden hatte, so gefunden wie der Psalmist, wenn er sagt: »Von allen Seiten umgibst Du mich." - wie das Wasser des Mutterleibes. Die Kraft dieser Vorstellung trug mich nicht nur durch meine Kinderjahre; sie trug mich auch durch die Zeiten, als ich erwachsen war und meinte, mein Leben werde in einem tödlichen Wasser für immer verschwinden. Gerade in diesen Zeiten bewährte sich meine Kindheitstheologie - nicht als gewußte, sondern als ahnungsvolle Gewißheit, daß es einen solchen Abgrund und das Chaos Meer gar nicht gab. Bärbel Wartenberg-Potter, Die Reise der Pachamama S. 65/66

6. Das Verständnis des Todes muß neu überdacht werden. Das Einstimmen in die Endlichkeit des Lebens (D. Sölle, Mystik des Todes)


Konsequenzen für die Kirchen:

· Schöpfungsspiritualität zu entwickeln und die Verwandtschaft mit den Geschöpfen und nicht die Überlegenheit des Menschen zu betonen. · Die Schöpfungsbewahrung in die Liturgie aufzunehmen. · Unsere Lebenspraxis damit in Übereinstimmung zu bringen. · Konzepte der Beherrschung in Frage zu stellen. · Modelle der ecojustice zu schaffen und zu verfolgen: z.B. die Wasserkampagne von Brot für die Welt: ein Engagement gegen die Privatisierung der lebensnotwendigsten Ressourcen. · Den Bundesschlussgedanken und das sakramentale Denken in Bezug auf die Schöpfungsbewahrung neu zu durchdenken. · "Umkehr" in diesen Fragen. Muß in die Liturgie und Spiritualität aufgenommen werden - alternative Lebensformen. · Die Institutionen, in denen wir etwas zu sagen haben, dazu zu benutzen. · Regionale, nationale Netzwerke aufzubauen. · Das Evangelium ist die Geschichte einer Auferstehungsbewegung. Es erzählt von Geschehen und Handlungen, die den Menschen, aber heute eben auch der ganzen Schöpfung auf unterschiedliche Weise, Leben geben.

Sing the song of Life

1. When the seed of hope is growing, sing, sing the Song of life, when the Spirit wind is blowing, sing, sing the Song of life. When the air and sea get clean, when the drought of land turns green, when the weak are loved and seen, sing, sing the Song of life.

2. When the word of truth is spoken, sing, sing the Song of life, when the bread of life if broken, sing, sing the Song of life. When the goodness is revealed, when the covenant is sealed, when the broken life is healed, sing, sing the Song of life.

3. When the light shines in the darkness, sing, sing the Song of life, when the heart grows in the heartless, sing, sing the Song of life. When I see the You in me, when the "I" becomes a "we", when creation is set free, sing, sing the song of life.

4. When the hurting finds compassion, sing, sing the song of life, where the heart may make confession, sing, sing the Song of life. When the lost is found and prized, when our dreams are realized, when God\s will is visualized, sing, sing the Song of live.

5. Into hate and into dying, sing, sing the song of life, into suffering and crying, sing, sing the song of life. Into mistrust, doubt, despair breathe God\s healing, love and care. Grace is given, grace to share, sing, sing the song of life.

Gloria Deo, Gebete und Lieder zur 12. Vollversammlung der Konferenz Europäischer Kirchen 2003 in Trondheim/Norwegen, Nr. 12, Seite 159

Es bleibt die Frage: Welches Wasser des Lebens haben wir in den Kirchen und in unserer Tradition den Menschen heute zu geben?

#130   dddddd13.08.2005 - 18:02
Jürgen Kuhlmann

Anleitung zum wahren Ausbruch

Ein hochbezahlter amerikanischer Geschäftsmann und Familienvater ist eines Tages unauffindbar verschwunden; drei Jahre später erkennt ihn jemand in einem Zirkusclown wieder ...

Warum empfinden die Leser einer solchen Notiz zunächst eine lausbübische Sympathie für den Mann, bevor sie einsehen, daß es "so ja nun auch nicht geht"? Warum hört man allerwärts Klagen über den "Trott des Alltags", die "lebensfeindliche Routine" - und zwar nicht von Fließbandarbeitern, sondern gerade von Leuten, die mit ihrer Lebensform grundsätzlich einverstanden sind? Praktisch gefragt: Wie kriegt man Spannung und Sinn in seine Tage?

Zentrale, universale Ratlosigkeit

Nicht wenige haben den Eindruck, daß diese zentrale Ratlosigkeit bei uns Heutigen an existentiellem Rang exakt der verzweifelten Leitfrage: Martin Luthers vor seinem Rechtfertigungserlebnis entspricht: Wie kriege ich einen gnädigen Gott? Nicht mehr, wie damals, erscheint Gott uns vor allem als der unerbittliche Richter, den es zu besänftigen gilt; sondern für uns ist Gott vorwiegend der Sinn des Ganzen, der sich mir Tag um Tag neu erschließen muß (und zwar im Alltag), soll ich ihn und mich nicht verlieren. Aufstehen, essen, Geld verdienen, essen, Geld ausgeben, essen, schlafen, aufstehen - mein Gott, das soll mein Leben sein?

Droht uns Deutschen - in Ost und West - vielleicht deshalb der "Volkstod", haben wir darum die wenigsten Kinder aller Völker der Welt, weil wir trotz allem das "Volk der Dichter und Denker" geblieben sind und uns als solches vor unseren Ungeborenen schämen, weil wir ihnen auf die Frage der Fragen keine Antwort wissen - so sehr schämen, daß wir sie ihre Frage lieber erst gar nicht stellen lassen?

Das merkwürdige Beispiel des Würflers

Sehen wir, wie eine bestimmte Extremlösung des Sinnproblems aussieht. Es handelt sich um den "Würfler" (Luke Rhinehart, "Der Würfler", übersetzt bei Molden, Wien 1972). Er ist ein Psychiater in New York, 35 Jahre alt, glücklich verheiratet, zwei Kinder. Er weiß allmählich schon am Morgen, wie der Tag enden wird. Zuerst versucht er es mit Zen: "Die Lösung des Rätsels lag darin, daß man die Dinge einfach laufen ließ ... Das Leben ist sinnlos? Wen kümmert es. Demnach sind meine Ambitionen Mist? Es schadet dennoch nicht, welche zu haben. Das Leben ist langweilig? Gähnen ist gesund" (16). Doch merkt er: die Langeweile und graue Sinnlosigkeit ist so nicht zu besiegen. Wie bringt er Spannung in sein Leben?

Da entdeckt er den Würfel. Vor kleinen und großen Entschlüssen legt er ihm verschiedene Möglichkeiten vor und folgt gehorsam seinem Diktat. Ja, das ist die Lösung: "Mein Geist explodierte förmlich vor Ideen. Meine Langeweile, unter der ich so lange gelitten, schien vermeidbar. Ich sah mich bereits nach jedem aufs Geratewohl gefaßten Beschluß sagen: die Würfel sind gefallen, und hierauf einen noch breiteren Rubikon überschreiten. Was tat\s, daß ein Leben sich totgelaufen hatte? Es lebe das neue Leben" (73)!

Die vergnüglich-makabren Einzelheiten seines nunmehr sich ergebenden Lebenslaufes bis auf Seite 447 (für dort befahl der Würfel das Ende) seien ausgelassen. Unser Thema sei allein die verführerische Grundidee. Folgendermaßen erklärt der Würfler sie vor dem Komitee, das über seinen Ausschluß aus der psychoanalytischen Vereinigung beschließen soll:

"Meine Theorie ist, daß jeder von uns Nebenregungen hat, die durch seine normale Persönlichkeit unterdrückt werden und daher nur selten durchbrechen und in einer Handlung zum Ausdruck kommen (271) ... Die Nebenregungen sind die Schwarzen unserer Persönlichkeit. Sie sind unfrei seit der Formung unserer Persönlichkeit; sie leben als U-Boote in uns. Wir lehnen es ab anzuerkennen, daß eine Nebenregung potentiell vollwertig ist, so lange, bis ihr die gleichen Entwicklungsmöglichkeiten gegeben werden wie unserem konventionellen Ich (272) ... Warum ist unseren Versuchen, Neurosen zu heilen, so durchgehend der Erfolg versagt geblieben? Warum verbreitet sich zusammen mit der Zivilisation auch die Unzufriedenheit, und das schneller, als wir neue Theorien darüber aufstellen, wie sie entsteht und was man dagegen tun könnte? Unser Fehler wird immer mehr offenbar. Aus den einfachen, einheitlichen, festgefügten Gesellschaften der Vergangenheit haben wir die Vorstellung einer Idealnorm des Menschen übernommen, die in unserer komplexen, chaotischen, labilen und multivalenten urbanen Zivilisation der Gegenwart überhaupt nicht mehr stimmt (276) ... Die gesellschaftlichen Konsequenzen einer Nation von Würflern sind nicht abzusehen. Die gesellschaftlichen Konsequenzen einer Nation aus Normalen sind offenbar: Elend, Konflikte, Brutalität, Krieg und allgemeine Freudlosigkeit" (278 f).

Auf eine Kurzformel gebracht liest sich das so: "Was waren wir doch für Narren! Wirkliche Narren! Eine Million Jahre haben wir geglaubt, es gebe nur die Wahl zwischen Selbstbeherrschung, Disziplin einerseits, Sich-gehen-Lassen andererseits. Dabei haben wir nicht erkannt, daß beides völlig gleichwertige Methoden sind, sich feste Gewohnheiten und Einstellungen und eine profilierte Persönlichkeit zuzulegen. Überhaupt diese verdammte Persönlichkeit! ... Was wir brauchen, ist disziplinierte Anarchie, kontrolliertes Sich-gehen-Lassen ... eine neue Art zu leben, eine neue Welt, eine Gemeinschaft von Würflern" (214).

Mit den ehrwürdigsten Traditionen vergleicht die Würfeltherapie ihr Werk am Menschen: "Er gerät in Ekstase. Er erlebt die Verlegung der Kontrolle aus seinem eingebildeten Ich in den Würfel als Bekehrung oder Erlösung. Es ist ein ähnlicher Vorgang wie beim neugeborenen Christen, der seine Seele Christus oder Gott überantwortet, oder beim Zen-Lehrling oder Taoisten, der sich Tao ausliefert. In allen diesen Fällen wird das Spiel mit der Ich-Kontrolle aufgegeben, und der Würfellehrling liefert sich einer Kraft aus, die er als außerhalb seiner selbst befindlich erlebt" (281).

Zwang und der Zufall

Wie steht das Christentum zu dieser seltsamen Philosophie? Zunächst müssen wir uns vor einer Verwechslung in acht nehmen. Eine Frage ist es, ob man grundsätzlich den Zufall entscheiden lassen soll, eine andere, welche Möglichkeiten man ihm vorlegt! Natürlich kommen Vergewaltigung und Mord für den Christen nicht in Betracht; falsch ist hier aber nicht die Methode im Augenblick des Entschlusses, sondern die vorher festgelegte Bandbreite der Möglichkeiten.

Damit sind wir auch schon auf die grundsätzliche Schwäche des Würfellebens gestoßen. Weder Zufall noch Gehorsam sind radikal genug. Der Gehorsam deshalb nicht, weil die Auswahl der Alternativen sowie die Gewichtung der Chancen ja ganz in meinem Belieben steht; der Zufall ist deshalb nicht rein, weil ich stets nur solche Alternativen benennen kann, die irgendwie als Unterprogramme meines allgemeinen Persönlichkeitsprogramms doch schon von meiner eigenen Vergangenheit vorgeschrieben sind. Wirkliche Überraschungen kommen da sowenig heraus wie aus der gefüllten Sonntagsgans. Gibt es einen Weg, sowohl den eigenen Zwängen als auch der universalen Beliebigkeit zu entkommen?

Das ist die Frage, an der alles hängt. Der Würfel löst sie nicht. Jesus sagt die Antwort, ehe er sie bis zum Ende vorlebt: "Jemand ging von Jerusalem nach Jericho und fiel unter die Räuber ... Ein Priester sah ihn und ging vorüber ..." Natürlich, seine wichtigen Pläne gestatteten keinerlei Ausbruch. Der Tempeldienst ging vor. Auch der Samariter hatte vermutlich seine Pläne. Doch ein Blick auf den blutenden Mann am Straßenrand zeigte ihm: vieles mag wichtig sein, aber nur eines ist jetzt notwendig. Sofort war ihm das Problem "Was tun?" für diesmal gelöst.

Was Simone Weil sagt

Eine der wegweisenden Christinnen unseres Jahrhunderts ist eine französische Jüdin, 34jährig ohne Taufe gestorben (1943) [inzwischen weiß man, daß sie sich zuletzt doch taufen ließ]. Zu Jesu Erzählung vom Samariter kenne ich keinen tieferen Kommentar als ein paar Sätze von ihr. Die angeblich so disziplinierte Anarchie des Würflers enthüllt sich als kindische Torheit im Lichte der Einsicht von Simone Weil: "Es gibt Fälle, da ist etwas notwendig einzig darum, weil es möglich ist. So, essen wenn man Hunger hat; einem Verwundeten, der am Verdursten ist, zu trinken geben, wenn Wasser in der Nähe ist. Weder ein Bandit würde sich dem entziehen noch ein Heiliger. Dementsprechend die Fälle erkennen, wo - obwohl das auf den ersten Blick nicht ebenso deutlich einleuchtet - die Möglichkeit eine Notwendigkeit in sich schließt. In diesen Fällen handeln, in den anderen nicht. Nur die guten Taten tun, denen man sich nicht versagen kann, die man nicht nicht tun kann, aber unaufhörlich - durch die wohl gerichtete Aufmerksamkeit - die Menge derer vermehren, die man nicht nicht tun kann. Nicht einen Schritt tun, sogar auf das Gute hin, über das hinaus, wozu man unwiderstehlich von Gott angetrieben wird, und das in der Tat, im Wort und in Gedanken. Aber bereit sein, unter seinem Antrieb überallhin zu gehen, bis an die Grenze (das Kreuz ...). Zum Maximum bereit sein heißt beten, daß man angetrieben werde, doch ohne zu wissen, wohin" ("Schwerkraft und Gnade", München 1954).

Bewundernswert! denkt der Leser jetzt vermutlich - doch was ergibt sich aus diesem hehren Prinzip für meinen Alltag? Wie wende ich es an auf Windelwaschen, Listentippen und den ganzen öden Kram? Gar nicht zu reden von dem Soldaten, der gegen seinen Willen in einen Krieg gezwungen wird, den er klar als widersinnig erkennt! Ist solche Entfremdung "notwendig"?

Natürlich geht es nicht darum, durch einen übernatürlichen Zaubertrick allen realen Unsinn in Sinn zu verwandeln. Das möchten Leute, die solchen Unsinn ihren Interessen zuliebe produzieren und das Christentum dazu mißbrauchen; es widersteht ihnen aber. Jesus hat den Widersinn vieler Gepflogenheiten seiner Zeit keineswegs brav verklärt, sondern aktiv bekämpft - bis man ihn aus dem Wege räumte. Auch wir sollen Unsinniges nach Kräften korrigieren, jenseits unserer Kräfte freilich erleiden.

Die Schöpferkraft des Sinns

So aber - das scheint der springende Punkt - daß wir daran nicht zerbrechen, sondern immer wieder die Energie aufbringen, neue Sinn-Inseln zu erschaffen. Mit dem Sinn ist es wie mit einem weiten Ozean. Mal stürmt er finster, mal plätschert er farblos dahin, nie gewährt er Halt. Da bricht auf seinem Grund ein Vulkan aus und türmt kraftvoll Lava über Lava, bis eine Insel entsteht. Dort treibt der Wind Samen an, verirrte Vögel und Insekten finden Ruhe, in der Wasserwüste winkt dem Leben ein Orientierungspunkt.

So stürmt auch gegen den Christen oft genug schwarzer Widersinn an, so wird er zu Zeiten von leerem Sinnmangel umplätschert. Dieses Meer trockenzulegen ist nicht meine Aufgabe, das gelingt erst nach der Zeit ("und das Meer ist nicht mehr", Offb 21,1). Im Glauben vertraue ich jedoch: unbesiegbar von allem wogenden Unsinn an der Oberfläche, glüht im Innersten der Wirklichkeit der ewige Sinn. Lasse ich mich auf ihn ein, dann ist - sooft es not tut - seine Schöpferkraft auch die meine, und mitten in wütender Brandung erscheint tröstend eine neue Insel.

So etwas geschieht, wenn ich im Verhältnis zu einem Menschen, den ich wenig mag, plötzlich die eingeschliffenen Fühl- und Redeweisen zerbreche und die Beziehung ganz neu beginne. Das fordert Jesus im Gebot der unbegrenzten Vergebung, das wäre in Simone Weils Sinn jeden Tag notwendig. Doch wie stumpf ist meist unser innerer Sinn! Oder ich mache mitten in der Plackerei, die Erziehung heißt, wieder ernst mit der alten Wahrheit, daß mein Kind Subjekt ist, mir gleichberechtigt, und Anspruch hat auf Partnerschaft ohne jede Übermächtigung. Oder ich besinne mich, wem meine Arbeit nützt. Wer hat etwas von der blöden Liste, die ich schreibe? Und wie viele ähnlich langweilige Arbeiten anderer Menschen waren nötig, damit ich mich in meinen Kleidern wohl fühle? Und so weiter ...

Wider Resignation und Zynismus

Theologisch gesprochen: der Glaube an den Sinn mitten im Unsinn korrespondiert genau dem antik-christlichen Glauben an das Leben in dieser Sterbewelt und dem reformatorischen Glauben an die Rechtfertigung des Sünders. Dabei entsprechen die Sinn-Inseln den guten Werken. Wie sie Früchte und Zeichen der Rechtfertigung sind, nicht aber ihre Ursachen, so sind auch die Inseln Ergebnisse des im Innern glühenden Sinnes und Hinweise auf ihn, nicht aber seine Bedingungen. Denn der Sinn ist unbedingt.

Der wahre Ausbruch ist also nicht der des Gefangenen aus dem Zuchthaus, sondern der des Vulkans unter dem Ozean. Jede Flucht über die Mauer, heraus aus dem Gefängnis einer Routine, endet nur in einem anderen Nebenhof des nämlichen weiträumigen Kerkers (vgl. das aufschlußreiche Büchlein zweier englischer Soziologen, Cohen/Taylor, "Ausbruchsversuche", edition suhrkamp Nr. 898, Frankfurt 1977). Wenn dagegen im Menschen voller Energie der Sinn aufbricht und ihn gut sein läßt, entsteht spürbar neuer Sinn. Deshalb kommt die verdrossene Resignation vieler oder der zynische Egoismus des Würflers für den Christen nicht in Betracht. Recht verstandene Nächstenliebe führt zu mehr Abenteuern, als meiner Bequemlichkeit lieb ist. Ich brauche nur auf verschüttete Hauptregungen meiner Mitmenschen aufmerksamer einzugehen, dann kommen auch manche meiner unterdrückten Nebenregungen unverhofft ins Spiel. Das Ziel ist klar. Ein bewußt liebender Mensch zu werden kann man versuchen; und wer es tut, ist bereits ausgebrochen aus dem Trott der Sinnlosigkeit. Sein Würfel ist gefallen. Eben diese Erfahrung drückt eine der Urgemeinden in dem tiefen (und den meisten Christen leider so unbekannten) Satz aus: " Wir sind vom Tod ins Leben hinübergeschritten, weil wir die Brüder lieben" (1 Joh 3,14).

Dieselbe prosaische, harte Alltagserfahrung ist es, die Jesus bei Johannes in der Sprache der Offenbarungsrede mitteilt: "Meine Speise ist es, daß ich den Willen dessen tue, der mich gesandt hat" (Joh 4,34). Ja, man spürt: dieser Mann kannte unseren wütenden Hunger nach Identität und Sinn. Er wußte aber auch, wie ein Mensch die Sinnlosigkeit besiegt: indem er mit aller Kraft jederzeit möglichst wach ist, um noch den leisesten Wink jener Liebe zu vernehmen und zu tun, die uns ausgedacht, befreit und gesandt hat, sie in der Welt dasein zu lassen, je hier und jetzt. Dein Würfel sei die vertrauende Liebe - und was du dann willst, das tu!

Veröffentlicht in "Christ in der Gegenwart" vom 15. Okt. 1978

#129   dddddddd09.08.2005 - 14:48
Vow movement

The Anchoress contrasts temporary vows in religious life to a news story title \\Til Death Do Us Part\ Is Dying Out. From the article

Vows like "For as long as we continue to love each other," "For as long as our love shall last" and "Until our time together is over" are increasingly replacing the traditional to-the-grave vow — a switch that some call realistic and others call a recipe for failure.

The Anchoress nails it when she calls this a matrimonial loophole. In fact I would think that a vow such as this would mean that no valid marriage was ever contracted. This would certainly be a rejection of marriage on God\s terms and specifically denies as Jesus says that two become one flesh. This type of vow is also a self-fulfilling prophecy. By having at the start such a temporary and really negative view of marriage it will become even easier to bail when you run into trouble. This form of a "vow" is just catching up to the reality of how marriage is being viewed in our society. The only good thing about it is that it acknowledges a true disposition towards marriage, though this view of marriage is objectively false.

Now I am not sure what the readings used for a wedding Mass are. For me it was a couple weeks shy of 25 years ago that I was married in a Catholic Church and being an atheist at the time I didn\t pay any attention to the readings. If I was the one to pick the readings I would certainly include Luke 9:23 "If any man would come after me, let him deny himself and take up his cross daily and follow me." Liturgies have suffered because the idea and reality of sacrifice has largely been lost and the same goes for marriages. The idea of marriage without sacrifice is to have some idealized concept of marriage more suited to Ozzy and Harriet. Marriage is sacrificial because it is a total giving of self to another, not a mechanism for having every need meet to your requirements.

The recipe of marriage is one man and one women both with original sin. The false modern view of marriage argues on a different composition or quantity, but all of the modern views ignore original sin. The only remedy for original sin is grace. The disciples understood the seriousness of Jesus\s teaching on divorce when they replied "it is not expedient to marry." Going into a marriage denying the indissolubility of the marriage bond in a faux vow is the consequence of society\s view of marriage. Long before the advent of same-sex unions and marriages we have been cutting away at the very foundations of marriage. The great scandal is that the majority of Christian churches allow divorce and remarriage without ever determining if a valid marriage ever came into existence. It is sad that so many Bible Christians have abandoned the Bible for a destructive and corrupt view of marriage. Marriage will always be under attack but worse is that the attacks have come from the interior of Christendom. No barbarians at the gate needed to apply.

One of the major problems of how the idea of love has come to mean is that it has become divorced (pun always intended) from the will. St. Thomas Aquinas defined love as "To love is to will the good of another." Love has been confused with an emotional gooey feeling. We can certainly feel the good and positive emotional effects of love, but should never forget that love can still be present without the warm feelings. The problem is that when we fall out of the honeymoon stage is that without a constant warm feeling that we can also consequently stop willing the good of another. That an effect of romantic love is confused with love itself. To say that you have fallen out of love is really to say that you have stopped willing to love. It is no surprise that this syrupy view of love has become so destructive to marriages. One of the most hideous movie lines ever devised was "Love means never having to say your sorry." I can imagine Satan having this quote in a frame done using needlepoint in his office in Hell.

Being the product of a divorced family I know from personal experience the tragedy of this view of marriage on children. I wonder what children of couples that take such phony vows must think? Each day they might wake up wondering if there parents had still "continue to love each other" or whether their parents might be moving on. They must also reason that if their parents can stop loving each other than they also can stop loving them. This is the obvious consequence of divorcing love from the will.

Michelle Malkin notes this comment to the above story (and she is about to have her 12th wedding anniversary).

#128   ffffff09.08.2005 - 11:49
Fritz Baade
Peter Bamm
Plato Sokrates im Gespräch

#127   http://happycatholic.blogspot.com/31.07.2005 - 00:07
http://happycatholic.blogspot.com/

#126   ggggg30.07.2005 - 09:54
Mit tiefer Zuneigung im Herrn spreche ich Ihnen meine Glückwünsche zu Ihrer kürzlich erfolgten Wahl aus und bitte Sie, meine Grüße allen Mitgliedern der Missionsgesellschaft der Vinzentiner zu überbringen, die in Rom vom 5. bis 29. Juli zu ihrem 40. Generalkapitel zusammengekommen sind. Getreu der Eingebung Eures Gründers, habt Ihr als Thema gewählt: »Unsere Identität als Vinzentiner heute, 20 Jahre nach Veröffentlichung der neuen Konstitutionen: Auswertung und drei Herausforderungen für die Zukunft«. Während Ihr nun Euer apostolisches Wirken und Euer Gemeinschaftsleben im Licht des Charismas der Vinzentiner betrachtet, bitte ich den Heiligen Geist, er möge seine Gaben erneut über Euch alle ausgießen, damit Ihr in rechter Weise den Weg erkennen könnt, auf den Gott Euch ruft.

Der hl. Vinzenz von Paul kam den Bedürfnissen der Kirche in seiner Zeit großherzig nach und stellte die Evangelisierung der Armen und die Ausbildung des Klerus in den Mittelpunkt seiner Vision für Eure Kongregation. Da die Zahl Eurer Mitglieder zugenommen hat und Ihr in aller Welt vertreten seid, hat Euer Apostolat natürlich viele neue Formen angenommen, wobei diese beiden Aspekte von zentraler Bedeutung geblieben sind. Euer Gründer war zutiefst von der Fruchtbarkeit der Göttlichen Liebe (vgl. Vita consecrata, 75) überzeugt und ermunterte alle seine geistlichen Kinder, in den armen Menschen Christus zu erkennen, zu lieben und Ihm zu dienen. Ich bin sicher, daß Ihr durch die Treue zur Vision des hl. Vinzenz noch besser dazu befähigt werdet, andere – Laien ebenso wie Priester – für die Aufgabe der Verkündigung des Evangeliums in der heutigen Zeit auszubilden.

»Das Antlitz Jesu betrachten, von Ihm neu ausgehen, seine Liebe bezeugen« (Instruktion Neubeginn in Christus: Ein neuer Aufbruch des geweihten Lebens im dritten Jahrtausend, 19). Meine Brüder, ich bitte Euch eindringlich, Euch diese Worte als Programm für die Zukunft zu Herzen zu nehmen. Denkt daran, daß jede apostolische Tätigkeit ihre Wirksamkeit aus einer innigen persönlichen Beziehung zu Christus erhält. Je mehr Ihr durch einen immer tieferen Eifer im persönlichen und liturgischen Gebet aus den Quellen des christlichen Lebens und der Heiligkeit schöpft, desto tiefer werdet Ihr dem gleichgestaltet, dessen Diener Ihr seid. Wenn Eure Herzen für die Liebe Gottes offen sind, werdet Ihr wirkungsvoll Zeugen sein können in einer Welt, die aufschreit, weil sie Hunger nach dem Heil verspürt, das Gott allein schenken kann.

Vier Jahrhunderte nach der Gründung Eurer Kongregation bleibt die Aufgabe, »den Armen eine gute Nachricht« (Lk 4,18) zu bringen, nach wie vor besonders dringlich. Nicht nur mangelt es Millionen von Menschen auf der ganzen Welt an den lebensnotwendigen Gütern, die moderne Welt wird auch von vielen anderen Formen der Armut heimgesucht (vgl. Sollicitudo rei socialis, 15). Eure Kongregation ist dazu berufen, neue Wege zu entdecken, um die befreiende Botschaft des Evangeliums unseren leidenden Brüdern und Schwestern zu übermitteln. Seid Euch der Unterstützung durch meine Gebete gewiß, wenn Ihr versucht, Euch großherzig diesen Herausforderungen zu stellen.

Viele Generationen von Priestern haben guten Grund, Eurer Kongregation für die bei Euch erhaltene Ausbildung zu danken. Die Wichtigkeit dieses Apostolats kann nicht hoch genug geschätzt werden. Daher ist es unbedingt notwendig, vorbildliche Priester mit dieser Aufgabe zu betrauen: Priester von menschlicher und geistlicher Reife, mit pastoraler Erfahrung, beruflicher Kompetenz und der Fähigkeit zur Zusammenarbeit (vgl. Pastores dabo vobis, 66). Viele Vinzentiner haben sich mit eben diesen Qualitäten in der Vergangenheit großmütig der Priesterausbildung gewidmet. Ich ermutige Euch, diesen lebenswichtigen Dienst auch in den kommenden Jahren fortzusetzen.

Liebe Brüder, Ihr habt in den letzten vier Jahrhunderten nicht nur einen hervorragenden Beitrag zur Arbeit der Kirche geleistet, für den sie zutiefst dankbar ist, sondern Ihr habt auch weiterhin »eine große Geschichte aufzubauen« (Vita consecrata, 110). Während Ihr darüber nachdenken wollt, wie sich am besten das Charisma der Vinzentiner leben läßt, wende ich mich mit dieser Botschaft an Euch: »Duc in altum! – Fahr hinaus auf den See!« (Lk 5,4). Habt keine Angst, euch weiter hinauszuwagen und die Netze zum Fang auszuwerfen. Gott selbst wird Euch dabei leiten!

Während ich Eure Beratungen der Fürsprache des hl. Vinzenz von Paul und der mütterlichen Fürsorge Unserer Lieben Frau von der Wundertätigen Medaille anempfehle, bete ich, daß Eure Versammlung vom Geist der Weisheit erleuchtet und geleitet werde. Euch und allen Mitgliedern Eurer Kongregation erteile ich von Herzen meinen Apostolischen Segen.






Schwestern der Göttlichen Liebe

1. Mit Freude habe ich erfahren, daß diese religiöse Familie im kommenden Jahr das 300. Jubiläum ihrer Gründung feiern wird. Denn am 13. September 1705 rief Kardinal Marco Antonio Barbarigo, Bischof von Montefiascone und Corneto (Tarquinia), die Kongregation der Göttlichen Liebe ins Leben. Es war die letzte wichtige apostolische Initiative eines Hirten, der seit Beginn seines bischöflichen Dienstes in den beiden Diözesen des nördlichen Latium und zuvor auf der Insel Korfu sich erfolgreich bemüht hatte, die kirchliche Reform entsprechend den Weisungen des Konzils von Trient zu verwirklichen. Dies geschah mit Hilfe eines engmaschigen Werks der Evangelisierung und Katechese durch das Institut der Schulschwestern »Maestre Pie Filippini« und durch ein Priesterseminar, das der Kardinal zur kulturellen und spirituellen Bildung des Klerus ins Leben rief. Durch Pastoralbesuche und die Abhaltung von Diözesansynoden sorgte der heiligmäßige Bischof auch dafür, daß in den Pfarreien eine dauerhafte pastorale Erneuerung in die Wege geleitet wurde, die sich tief auf das religiöse und moralische Leben der Bevölkerung auswirkte. In Erinnerung geblieben ist auch seine Sorge um die damalige Situation der Frauen und die religiöse Bildungsarbeit, die von ihm zum Wohl der jungen Frauen eingerichtet wurde.

2. Zu Beginn des dritten christlichen Jahrtausends, während ich mit Ihnen, Ehrwürdige Mutter, und allen Mitschwestern Gott für die 300 Jahre des Bestehens dieses Instituts danke, möchte ich jeder Ordensfrau die Einladung zurufen, die Jesus an Petrus gerichtet hat: »Duc in altum! – Fahr hinaus!« (Lk 5,4)

Das Charisma, das Euch kennzeichnet, ist aktuell und reiht Euch in die gemeinschaftliche und missionarische Spiritualität ein, die ich der Kirche im Apostolischen Schreiben Novo millennio ineunte zum Abschluß des Großen Jubiläumsjahres 2000 vorgestellt habe. Kraft der besonderen Weihe an Gott, die Euch auszeichnet, liebe Ordensfrauen der Göttlichen Liebe, seid Ihr berufen, Zeuginnen der Barmherzigkeit Gottes in jeder Situation zu sein. Insbesondere fordere ich Euch auf, in Euren Häusern die Aufnahmebereitschaft zu pflegen, indem Ihr offen seid für die Nöte der anderen, damit sich der Wohlgeruch der Nächstenliebe verbreitet und zur Verwirklichung der »Göttlichen Geschichte der Liebe« beiträgt, auf die Euer Gründer gerne Bezug nahm.

Laßt nicht nach, weiterhin eine authentische Spiritualität der Gemeinschaft zu fördern, die aus dem erhabenen Geheimnis der Heiligsten Dreifaltigkeit Inspiration und Unterstützung erhält. Aus dieser göttlichen Quelle schöpft Ihr die Wärme der Nächstenliebe, die weiterzugeben Ihr berufen seid; das geschieht durch die vielfältigen Tätigkeiten der liturgischen Animation, der Katechese, der Ausbildung in den Jugendzentren, Berufsschulen und Werkstätten, der Fürsorge in den Familienzentren für alleinstehende Frauen mit Kindern und in den Aufnahme- und Beratungszentren für hilfsbedürftige und ausgegrenzte Personen.

3. Im Hinblick auf die großen kulturellen und sozialen Veränderungen, die in der modernen Zeit eingetreten sind, erscheint die Intuition von Kardinal Marco Antonio Barbarigo, der sich schon vor drei Jahrhunderten für die soziale Förderung der Frau einsetzte, wegbereitend. Seinem Beispiel folgend, ist Euer Institut heute aufgerufen, den Frauen in Schwierigkeiten zu helfen, ihre dem Plan Gottes entsprechende Würde und ihre Berufung zur Liebe wiederzuentdecken. Die Anerkennung der richtigen Rolle der Frau in der Gesellschaft trägt dazu bei, die Werte der Familie, des Lebens und des Friedens zu schützen.

In dieser Sicht möchte ich Eurer Betrachtung und Eurem Bemühen besonders das Apostolische Schreiben Mulieris dignitatem empfehlen. Die in ihm enthaltenen Hinweise können Euch helfen, Eure Mission im Dienst an der menschlichen und religiösen Förderung der Frauen zu einem guten Gelingen zu führen.

Maria, die Mutter der Kirche, führe Euch bei dieser Anstrengung und erwirke für Eure Ordensfamilie das Geschenk vieler heiliger Berufungen. Während ich in diesem Anliegen ein besonderes Gebetsgedenken zusichere, erteile ich Ihnen, Ehrwürdige Mutter, und der ganzen Familie des Instituts der Göttlichen Liebe von Herzen meinen Segen.

#125   http://www.erzbistum-muenchen.de/EMF086/EMF008512.asp28.07.2005 - 17:27
http://www.erzbistum-muenchen.de/EMF086/EMF008512.asp

#124   http://www.festjahr.de/index.taf28.07.2005 - 17:07
http://www.festjahr.de/index.taf

#123   fffff28.07.2005 - 16:52
tagespost
pur-magazin

#122   ztttt28.07.2005 - 15:45
der-fels.de

EWTN



Jean Marie Kardinal Lustiger:
Die Angst mit der Kraft Gottes
bekämpfen
S. 339
Dr.IrmgardSchmidt-Sommer:
Der Messias ist unser Heil
S. 341
Franz Salzmacher:
Weihnachten – Urfest der Versöhnung S.348
Page 2
338
DER FELS 12/2003
Jean Marie Kardinal Lustiger:
Die Angst mit der Kraft Gottes
bekämpfen .............................. .......... 339
Dr.IrmgardSchmidt-Sommer:
Der Messias ist unser Heil ................. 341
Jürgen Liminski:
Familienwohl und Gemeinwohl ........... 344
Franz Salzmacher:
Weihnachten –
Urfest der Versöhnung ........................ 348
P.Franz Schaumann SDB:
Ein Geschenk Gottes zur
rechten Zeit .............................. ......... 350
Dr.Michael Schneider-Flagmeyer:
Fels in der Brandung .......................... 352
Manfred Spieker:
Katholische Kirche und
Schwangerenkonfliktberatung
in Deutschland, II.Teil ........................ 354
Franziskanische Gemeinschaft:
„Nach der Form des heiligen
Evangeliums leben ............................ 359
StD. Gerhard Stumpf:
Die Märtyrer von gestern haben eine
Botschaft für heute ............................ 361
Auf dem Prüfstand ............................ 362
Zeit im Spektrum .............................. . 363
Bücher .............................. ................ 365
Namen- und Sachregister .................. 367
INHALT:
Titelbild: Der hl. Franziskus feiert Weihnachten;
Miniatur der Klarissin Sibilla von Bondorf (1478); A.
Rotzetter: Franziskus feiert Weihnachten, Titel, Ver-
lag am Eschbach GmbH
Fotos: 339 R. Gindert; 340 Markus Maria Plur; 341
Maria Amata Neyer:Edith Stein, Echter Verlag 1987,
S. 43 uns S.66 ; 342 P. F. Schauman SDB; 346, 348,
349 Liminski; 350 P. F. Schaumann; 353 Guiseppe
Romano: Papst Joh. Paul II. W. L. Buchverlag, Mün-
chen T. 9; 354 Spieker; 356, 357 R. Beckmann: Der
Streit um den Beratungsschein, Verlag J. W.
Naumann, Würzburg, Umschlag; 360 Archiv
368 Quelle: Die Vollendeten. Vom Opfertod grenz-
märkischer Priester 1945/46 von Johannes Schulz,
Selbstverlag der Freien Prälatur Schneidemühl
Impressum „Der Fels“ Dezember 2003 Seite 367
Liebe Leser,
Eine gesegnete Adventszeit
und ein gnadenreiches
Weihnachtsfest
wünscht Ihnen
Ihr Hubert Gindert
Ein Bericht über den 94.
Augsburger Seminarkongress
für praktische Medizin trägt die
Überschrift „Die beste Medizin:
Lebensgewohnheiten ändern!“
(AZ 20.10.03). Die Lebensge-
wohnheiten ändern heißt zuerst
die Denkgewohnheiten ändern.
Wer ein anderer Mensch werden
will, kommt am Umdenken nicht
vorbei. Die Frage ist, woher er-
halten wir die Kraft dafür?
Viele möchten sich und ihre
Lebensumstände verändern und
kommen sich dabei wie Sisyphus
vor. Dies ist jener Mensch, der
in der antiken Sage die Aufgabe
hatte, einen schweren Stein ei-
nen Berg hinaufzurollen. Aber
bevor er die Spitze des Berges
erreicht, rollt der Stein wieder
zurück, und das absurde Spiel
beginnt von neuem. Sisyphus ist
der auf sich selbst zurückgewor-
fene, hilflose Mensch, dem im
entscheidenden Moment die
Kraft fehlt, den Stein auf die
Bergkante zu heben. Der fran-
zösische Existenzialist Albert
Camus hat in seinen Büchern
„Der Mythos von Sisyphus“ und
„Die Pest“ den auf sich selbst
gestellten Menschen ohne Gott
beschrieben, der in einer hoff-
nungslosen Situation seine
Pflicht tut. Eine ständige Über-
forderung des Menschen, der auf
Gott hin angelegt ist. Aber trifft
diese Beschreibung nur auf
Atheisten zu, sehen sich nicht
auch Christen häufig in der Rolle
des Sisyphus? Eltern und Leh-
rer, die sich um die Erziehung der
Kinder bemühen, Priester, Poli-
tiker, Ärzte und Personal in den
Krankenhäusern – sie alle sind
in Gefahr, dass sie, weil sich
scheinbar kein Erfolg einstellt,
zwar in Pflichterfüllung ihre Ar-
beit tun, ihre Aufgabe aber zur
Routine ohne Begeisterung wer-
den lassen.
Vor kurzem wurde eine Frau
selig gesprochen. Sie war Leh-
rerin in klösterlicher Ordnung
und in Geborgenheit. Beim An-
blick der alleingelassenen, kran-
ken und sterbenden Menschen
auf den Straßen indischer Städ-
te hat sie sich und ihre Lebens-
gewohnheiten völlig verändert:
Mutter Teresa. Woher bezog sie
ihre Kraft, die Sisyphusarbeit mit
einem Lächeln für die Verlasse-
nen zu verrichten? Aus ihrer in-
nigen Verbindung mit Jesus
Christus! Sie, die beim Anblick
des Elends, das sie jeden Tag
sah, eigentlich hätte frustriert
sein müssen, gründete Hospitä-
ler, Häuser für Sterbende und
Heime für verlassene Kinder. Sie
bereiste die halbe Welt, um Hilfs-
mittel zu mobilisieren und Men-
schen wach zu rütteln. In einer
fruchtbaren Kreativität der Lie-
be reichten die „fünf Brote“ in
ihren Händen zur Speisung von
Tausenden.
Papst Johannes Paul II. hat im
Schlusskapitel seines Schreibens
vom 16. Oktober 2003 „Der Bi-
schof – Diener des Evangeliums
Jesu Christi für die Hoffnung der
Welt“ (Pastores gregis) die Krea-
tivität der Liebe angesprochen,
die sich zur vollen Wirkung ent-
faltet, wenn zur eigenen Anstren-
gung das ganze Vertrauen in die
Kraft Gottes hinzukommt, die jede
Situation verändern kann.
In der Hl. Schrift steht „Zieht
Jesus Christus an!“ In diesem
Kleid haben Männer und Frau-
en, die wir als Heilige der Kir-
che kennen, Berge versetzt und
die Welt verändert. Der Papst
mahnt in seinem o. a. Schreiben
die Bischöfe „Hüter der Hoff-
nung im Herzen der Menschen
zu sein“. Es ist jene Hoffnung,
die vor 2000 Jahren im Stall von
Bethlehem ihren Ausgang nahm
und die jeden mit Gnade erfüllt,
der im Vertrauen hinkommt.
Page 3
DER FELS 12/2003
339
D
er Sturm auf dem See ist ein
prophetisches Ereignis:
&9679;
eine Prophezeiung über
Christus, der eingeht in den Schlaf
des Todes und aufersteht zu
unserem Heil.
&9679;
eine Prophezeiung über das
Leben der Kirche, über das Boot
des Petrus, wo der Herr gegenwär-
tig ist, während wir Kleingläubigen
meinen, er schlafe.
Nachdem Jesus die Menge in
Gleichnissen gelehrt hat, fährt er mit
seinen Jüngern hinüber ans andere
Ufer. Plötzlich erhebt sich ein hefti-
ger Wirbelsturm, die Wellen schla-
gen in das Boot, es beginnt sich mit
Wasser zu füllen. Jesus aber liegt
hinten im Boot, auf einem Kissen,
und schläft. Die Jünger wecken ihn:
„Kümmert es dich nicht, dass wir
zugrunde gehen?!“ Daraufhin macht
Jesus eine unglaubliche Geste der
Autorität; auf sein Wort hin kehrt
Stille ein zwischen Himmel und
Meer…
Danach ergreift Jesus das Wort
und sagt: „Was seid ihr so furcht-
sam?“. Warum habt ihr solch eine
Angst, dass ihr euch benehmt wie
Feiglinge (deilos auf griechisch fin-
det sich nur dreimal im Neuen Tes-
tament: hier bei Markus, dann par-
allel hierzu bei Mt 8,26, und in der
Geheimen Offenbarung des Johan-
nes 21,8; wir werden noch darauf
zurückkommen.) „Also habt ihr
immer noch keinen Glauben?!“
Da geraten die Jünger „in große
Furcht“ (auf griechisch phobeis-
thai). In der Bibel bezeichnet die-
ses Wort die Gottesfurcht; für Maria
gebraucht der Engel dasselbe Wort:
„Fürchte dich nicht, denn du hast
Gnade gefunden bei Gott“, es ist
auch das Wort Jesu an Simon-Petrus,
Die Angst mit der Kraft Gottes bekämpfen
Predigt von Jean-Marie Kardinal Lustiger am 22. Juni 2003 in Fulda
der Jesus nach dem wunderbaren
Fischfang zu Füßen gefallen ist:
„Fürchte dich nicht! Von jetzt an
wirst du Menschen fangen.“
Wir müssen hier gut unterscheiden
zwischen zwei Haltungen: – ei-
nerseits die Angst, die Feig-
heit des Menschen ist, vor
dem Nichts, vor dem Tod,
vor Misserfolg und Gefan-
genschaft in der Sünde; –
andererseits die Furcht vor
Gott; der Mensch als Sün-
der wird sich bewusst der
Größe und der Heiligkeit
dessen, der Fülle des Le-
bens ist; Furcht also des
Menschen, der es nicht
wagt, sich der Quelle des Lebens zu
nähern.
Eben der Glaube befreit uns von
der Feigheit, von der Angst vor dem
Tod, Angst vor der Auflösung des
menschlichen Wesens, um uns ein-
zuführen in die Gottesfurcht, die uns
Weisheit, Kraft, Freiheit und Hoff-
nung verleiht, und uns entdecken
macht, was die Liebe ist.
Die Vision des Heiligen Johannes
am Ende der Geheimen Offenba-
rung (21,8) hilft uns, dies besser zu
verstehen, dank zweier Worte, die
auf sehr suggestive Weise nebenei-
nander gesetzt werden: deilos und
apistos: „Die ‚Feigen’ aber, die ‚Un-
gläubigen’, die ‚Unzüchtigen’...
sollen im brennenden Pfuhl von
Feuer und Schwefel ihren Anteil
haben. Dies ist der zweite Tod.“ Der
Seher von Patmos setzt diese Feig-
heit gleich mit den schlimmsten
Niederlagen der Freiheit – Mord,
Götzendienst, usw. Der Glaube
wächst, einer Flamme gleich, durch
die Macht des Hauches Gottes, oder
aber er verkümmert wegen unserer
Feigheit im Kampf des Lebens.
D
er nachstehende Text ist
die Predigt des Kardinals
auf dem Kongress „Freude am
Glauben“ im Hohen Dom zu
Fulda
Jean-Marie Kardi-
nal Lustiger, Erzbi-
schof von Paris,
wurde 1926 in Paris
als Sohn polnischer
Juden geboren. Mit
14 Jahren wurde er
Katholik und ließ
sich in Orléans tau-
fen. Die Konversion
zur katholischen
Kirche sieht Lusti-
ger nicht als Loslö-
sung von seinem Jüdischsein.
Als Jugendlicher entging er
wie sein Vater dem Holocaust.
Die Mutter wurde ermordet.
Von 1944 an studierte er an
der Sorbonne in Paris. Er trat
in das Séminaire des Carmes
ein und schloss sein Studium in
Philosophie und Theologie am
Institut Catholique de Paris ab.
Nach Absolvierung des Mili-
tärdienstes, wurde er am 17.
April 1954 zum Priester ge-
weiht. 1979 ernannte ihn Papst
Johannes Paul II. zum Bischof
von Orléans, 1981 zum Erzbi-
schof von Paris und 1983 zum
Kardinal.
Lustiger hat sich gegen jede
Art von Menschenverachtung
in den Dienst Gottes und sei-
ner Kirche gestellt.
Page 4
340
DER FELS 12/2003
Jesus wirft seinen Jüngern vor:
„Habt ihr denn immer noch keinen
Glauben?“ Der heilige Matthäus
sagt im entsprechenden Abschnitt
(8,26): „ Ihr Kleingläubigen“, ihr,
die ihr wenig Glauben habt (oligo-
pistoi).
Der Glaube, um gegen diese
Feigheit anzugehen und sie zu be-
kämpfen, besteht aber nicht nur in
einer Überzeugung, einer zusätzli-
chen oder austauschbaren Meinung.
Der Glaube besteht in erster Linie
darin, sich auf die Kraft des Lebens,
also auf Gott zu stützen, so schwach
man dabei auch sein mag. Diese
Umkehrung des eigenen Wesens,
diese Umkehrung des Herzens, ist
ein echter geistlicher Kampf.
Der Mensch, der ergriffen wird
vom Aufbegehren des Lebens, der
angesichts des Zusammenbruchs
seines Lebens oder der Faszination
vor dem Nichts nicht nur dem Tod
entrinnen will, sondern der auch
hoffen will, der Mensch, der das Le-
ben suchen will – auch wenn er
nicht weiß, welchen Herrn des Le-
bens er um das Heil bittet – dieser
Mensch trägt bereits ein klein we-
nig Glauben in sich.
Denn dann ist Christus da, der
leidende Messias, der unseren Tod
trägt – erinnert euch an die Worte
des Heiligen Paulus an die Korin-
ther, die wir soeben vernommen
haben – , Christus, in dem wir ge-
storben sind und in dem wir das
Leben empfangen, Christus, der zu
schweigen schien,
an dasselbe Los ge-
nagelt wie wir, die-
ser Christus ist hier,
der wacht und er-
wacht. Und die
Gnade, die er in uns
gelegt hat, erweckt
uns, hin in seine
Gegenwart.
Angesichts die-
ses Wunders unse-
rer besiegten Feig-
heit entdecken wir,
dass das von Gott
geschenkte Leben
stärker ist als der
Tod, der uns in
Bann schlägt, stär-
ker als die Sünde,
die uns in Ketten
hält. Wir entdecken,
dass der Sieg Christi
uns erlösen kann
und uns lebendig
macht. Dann begin-
nen wir zu verste-
hen, dass dieses
Geheimnis größer
ist als alles, was wir
uns vorstellen kön-
nen.
Dann wohnt die Gottesfurcht in
uns, wie in den Jüngern. „Da er-
griff sie eine große Furcht und sie
sagten zueinander: Wer ist wohl
dieser?“
Sie befinden sich an der Schwel-
le des Geheimnisses. Sie sind noch
ohne Antwort auf die Frage, die ih-
nen die Größe Gottes, der sich in
seinem Sohn offenbart, aufwirft.
Sie haben keine Antwort; und
doch: gerade ihre Frage lässt bereits
die Offenbarung vorausahnen, die
sie empfangen werden und zu de-
ren Zeugen sie dann später werden.
Zwar sind sie noch ohne Glau-
ben; doch die Macht Gottes hat in
ihnen bereits den Glauben hervor-
gerufen.
Im Lichte dieses prophetischen
Ereignisses werden sowohl ihre
Feigheit und Angst vor der Passion
des Herrn wie auch ihre Bestürzung
und Furcht vor seiner Auferstehung
den Jüngern verständlich machen,
dass sie den Vorwurf verdienen, den
Jesus den Emmaus-Jüngern macht:
„O ihr Unverständigen! Ihr seid zu
schwerfällig, um auf all das hin zu
glauben, was die Propheten gesagt
haben.“ (Lk 24, 25)
Im Lichte dieses prophetischen
Ereignisses müssen auch wir verste-
hen, dass wir denselben Vorwurf
verdienen, wenn uns die Angst er-
greift angesichts der Lage der Kir-
che, wo uns doch Jesus versichert
hat: „Seht, ich bin bei euch alle Tage
bis ans Ende der Welt.“ (Mt 28, 20)
Der Sturm erschüttert sowohl das
Boot Petri, wie auch die Jünger und
selbst Jesus. Dieser Meeressturm ist
Bild unserer Welt, alle Menschen
werden hineingerissen in den Tau-
mel ihrer eigenen Zerstörung. Sie
sind keine Gegner, vielmehr sind sie
die Opfer und die Gefangenen ih-
rer Sünde.
Christus, der einzige Retter der
Menschen, nimmt unsere Schuld auf
sich, unsere Wunden nimmt er auf
sich, um uns davon zu befreien: er
bringt den Sturm, der auch ihn her-
umwirbelt, zur Ruhe; er verflucht
ihn nicht. Denn sein Sieg ist die Be-
freiung der Menschen, die im Begriff
sind unterzugehen; und „unser Sieg
ist unser Glaube“, wie es der heilige
Johannes sagt (1 Joh 5,4).
Brüder und Schwestern, mögt ihr
doch Gott um diese Gnade bitten
und sie auch empfangen! Und er-
innert euch:
– es gibt eine feige Angst – die-
se gilt es mit der Kraft des Glaubens
zu bekämpfen.
– und es gibt eine Furcht vor
der Größe Gottes: eine Offenheit
des Herzens, die Gabe des Glaubens
ist. Und verstummen mögen wir vor
solch einer Größe. Doch diese
Furcht Gottes ist heilige Furcht, ja,
sie ist der „Anfang der Weisheit“ (Sir
25,16). Denn sie gibt uns das wah-
re Maß aller Dinge, das wahre Maß
unseres Lebens.
Kardinal Lustiger während der Predigt beim Ab-
schlussgottesdienst des Kongresses „Freude am
Glauben“ in Fulda.
§
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DER FELS 12/2003
341
Das Geheimnis der Erwählung
„Sie können nicht nachfühlen,
was es für mich bedeutet, dass die
Mutter Jesu Jüdin war.“ Dieser Aus-
spruch Edith Steins lässt etwas von
dem Geheimnis erahnen, was es
bedeutet, zum Volk Israel, dem aus-
erwählten Volk Gottes, zu gehören.
Dieser Erwählung sind sich die
meisten Konvertiten bewusst, die
aus dem Judentum kommen und
sich haben taufen lassen. Uns be-
gegnet hier das Geheimnis der
Erwählung eines ganzen Volkes,
aus dem der Messias für dieses Volk
und für die Welt hervorgegangen
ist. Verfolgt man die Geschichte die-
ses Volkes mit Gott, so zeigt sich,
dass es sich einerseits nach seinen
Weisungen gerichtet und an ihn
geglaubt hat, dass es andererseits
jedoch oft von Gott abgefallen ist
und ihn erzürnt hat. Und doch steht
Gott ihm zur Seite, hilft ihm und er-
rettet es immer wieder aus tiefer Not.
Es scheint aber auch das Geheim-
nis der Erwählung jedes einzelnen
auf, besonders die Erwählung und
Berufung derer, die als Angehörige
des Volkes Israel den Messias ge-
funden haben.
Die Kinder gläubiger jüdischer
Familien sind wie Edith Stein in dem
Glauben aufgewachsen, dass der
Messias noch zu erwarten sei. Des-
halb bedeutet für jüdische Familien
die Konversion eines Familienmit-
gliedes zur katholischen Kirche –
eher toleriert man die zum Protes-
tantismus – einen Bruch mit dem
Glauben der Väter. Eine Schwester
von Edith Stein hatte die Vorstel-
lung, die katholische Kirche sei eine
Art „mystische Sekte“; deshalb
konnte sie nicht verstehen, dass ihre
kluge Schwester auf so etwas her-
Der Messias ist unser Heil
Edith Stein und die Botschaft des Alten Testamentes
Von Irmgard Schmidt-Sommer
einfallen konnte. Und ihre Mutter
war sehr erstaunt, dass in der Kir-
che die Psalmen gebetet werden. Sie
hat als gläubige Jüdin den Weg ih-
rer Tochter nie akzeptieren können.
Altes und Neues Testament
– neu erfahren
Edith Stein erschloss sich durch
ihre Konversion der Reichtum der
jüdischen Religion neu, und zwar
durch den Messias und Gottmen-
schen Jesus, der in diesem Volk und
seinen Traditionen gelebt, die Pro-
pheten ausgelegt und
das Gebet des auser-
wählten Volkes ge-
pflegt hat. Er fügte
sich völlig ein in die
Religion seines Vol-
kes, feierte die Feste
mit und begab sich –
wissend um seinen
Tod – auf die Wallfahrt
nach Jerusalem. Er
war als Mensch ganz
eingebunden in das
jüdische Volk. Edith
Stein war der Über-
zeugung, dass der
menschgewordene
Gottessohn in einem
Volk beheimatet sein
musste, um ganz
Mensch sein zu können... In der Ab-
handlung „Der Aufbau der mensch-
lichen Person“ (1932/33) schreibt
sie:
„Wenn es einen Menschen gibt,
dessen Sein von Bedeutung für die
ganze Menschheit und für jeden ein-
zelnen Menschen ist, so müßte man
erwarten, dass dieser Mensch – wenn
überhaupt einer – frei von Bindung
an ein einzelnes Volkstum sein müs-
se. Und doch ist dieser einzigartige
Mensch, das Haupt der ganzen
Menschheit, aus einem Volk und in
einem Volk geboren, hat in diesem
Volk gelebt und es als Werkzeug der
Die
Gottsucherin
Edith Stein als junge
Wissenschaftlerin.
„Unruhig ist unser
Herz, bis es Ruhe fin-
det in dir, oh Gott.“
(Augustinus)
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342
DER FELS 12/2003
Erlösung für die ganze Menschheit
erwählt. Die Tatsache des auser-
wählten Volkes und das Hervorge-
hen des Erlösers aus ihm, scheint
mir ein natürlicher Hinweis auf die
unaufhebbare Bedeutung des
Volkstums für die Menschheit.“
Der Glaube an diesen Messias
vermittelt Edith Stein eine neue
Sicht des Alten Testamentes als Bot-
schaft der Verheißung, während ihr
das Neue Testament zum Kraftquell
des Lebens in und mit Gott wird.
Jesus, der durch die Propheten an-
gekündigte Messias, ist die Erfül-
lung der Verheißungen des Alten
Testamentes und das Heil der
Menschheit. Und so bildet die Sehn-
sucht nach Erlösung den Urgrund
von Konversionen vom Judentum
zum Christentum, nicht nur für
Edith Stein, sondern für viele Chris-
ten jüdischer Herkunft. Die Verhei-
ßung des Neuen Testamentes sagt,
dass Jesus uns durch den Tod am
Kreuz und seine Auferstehung die
Vergebung der Sünden und ewiges
Leben schenkt, so dass unser Weg
in dieser Welt eine Pilgerfahrt hin
zur ewigen Herrlichkeit Gottes be-
deutet. Edith Stein bedauert, dass
ihre Landsleute häufig einem
Diesseitsglauben huldigen, der in
kritischen Situationen wie der Ju-
denverfolgung des Dritten Reiches
die Hoffnung auf ein ewiges Leben
entbehrt. Weil sie und die Christen
jüdischer Abstammung an diese
Ewigkeit geglaubt haben, konnten
sie im niederländischen Lager
Westerbork vor der Deportation
nach Auschwitz ihren verzweifelten
Schicksalsgefährten beistehen.
Eine Schlüsselgestalt aus dem
Alten Testament weist für Edith
Stein in besonderer Weise auf die
Rettung und Erlösung des Volkes
Israel hin: Es ist Ester, die Frau des
Königs Xerxes, die unter Lebens-
gefahr für ihr Volk beim König ein-
trat und Gehör fand. Diese Gestalt
wird auch im Zusammenhang mit
Maria gesehen, die ebenfalls aus
diesem Volk stammt und am Er-
lösungsgeschehen teil hat, weil sie
dem Messias das Leben schenkte.
Damit wird nicht nur eine Verbin-
dung vom Alten zum Neuen Testa-
ment hergestellt, sondern das jüdi-
sche Volk, hier repräsentiert durch
Ester, wird in enger Beziehung zur
Erlösung durch Jesus Christus ge-
sehen. Edith Stein betrachtet diese
Frauengestalt als eine Parallele ih-
res eigenen Lebens. Sie will ihrem
Volk die Botschaft der Erlösung
durch Jesus, den Messias, überbrin-
gen, so wie Ester das Leiden des
Volkes dem König Xerxes vorge-
tragen hat. In einem Brief schreibt
sie:
„Ich muss immer wieder an die
Königin Ester denken, die gerade
darum aus ihrem Volk genommen
wurde, um für das Volk vor dem
König zu stehen. Ich bin eine sehr
arme und ohnmächtige Ester, aber
der König, der mich erwählt hat, ist
unendlich groß und barmherzig.
Das ist ein so großer Trost.“
Während des Dritten Reiches hat
Edith Stein, als sie im Karmelklos-
ter Köln war, einen Dialog zwischen
Ester als Vertreterin des Alten Tes-
tamentes und einer Ordensoberin als
Vertreterin des Neuen Testamentes
verfasst, also eine Begegnung zwi-
schen Altem und Neuem Bund: Es-
ter ist wieder auf dem Weg zu ih-
rem Volk, um es zu retten, indem
sie ihm die Botschaft vom Messias
bringt, der auch sie erlöst hat. Das
ist ein Gedanke, der von Christen,
die aus dem Judentum kommen,
viel stärker bedacht wird als von
uns, die wir im Christentum aufge-
wachsen sind. Die eindrucksvollen
Gestalten aus dem Alten Testament
bedeuten für Edith Stein Verkünder
der Botschaft von der Erlösung
durch den Messias, der bereits er-
schienen ist... Sie sind ein Stück ih-
rer Herkunft, ihrer Existenz, ihres
Lebens.
Die jüdische Familie
Edith Stein hat immer betont –
besonders nach ihrer Konversion –
dass sie am Tag des jüdischen Ver-
söhnungsfestes Jom Kippur, am 12.
Oktober, geboren sei. Sie betrach-
tete das als ein Zeichen für ihren
Auftrag, Versöhnung zwischen Ju-
dentum und Christentum zu stiften,
besonders in der eigenen Familie.
Wenn jüdische Familien den Kon-
takt mit ihren Kindern abbrechen,
weil sie Christen geworden sind,
halten diese Kinder als Konsequenz
der Verwurzelung in ihrem Volk ih-
ren Familien die Treue, auch wenn
sie angefeindet oder verstoßen wer-
den. Für viele jüdische Konvertiten
war und ist dies ein tiefer Schmerz,
auch für Edith Stein. Trotzdem blei-
ben sie ihren Familien verbunden.
So hat sich Edith Stein immer um
ihre Familie gekümmert, auch wenn
sie Unverständnis und Ablehnung
erfahren hat. Das Schicksal ihrer
Mutter, die 1936 an einem Krebs-
leiden starb, und das ihrer Schwes-
ter Rosa, die mit ihr in den Tod ging,
lag ihr stets am Herzen. Davon zeu-
gen viele Briefe, in denen sie sich
über ihre Familie äußert. Diese tie-
fe Familienbindung ist typisch im
gläubigen Judentum und unter-
scheidet sich von manchen Auffas-
sungen in unserer säkularisierten
Welt.
Außerdem machte Edith Stein
1933 angesichts der zunehmenden
Judenfeindlichkeit durch den Nati-
onalsozialismus einen lang gehegten
Plan wahr: Sie schrieb die Autobio-
graphie „Aus dem Leben einer jüdi-
schen Familie“, um den nachfolgen-
den Generationen Zeugnis zu geben,
„über die, die wir im Judentum groß
geworden sind,“ und um ein wahres
Bild von jüdischen Familien zu
zeichnen. Denn die aufkommende
Judenhetze der Nationalsozialisten,
Siebenarmiger Leuchter und Kreuz
Jesu Christi – Ausgang und Ziel:
aus Edith Stein wird Teresa
Benedicta vom Kreuz
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DER FELS 12/2003
343
die der Verfolgung vorausging, wür-
de dieses wahre Bild entstellen.
Edith Stein schaute ihrer Zeit weit
voraus, denn die Verhöhnung des
jüdischen Zusammenlebens durch
die nationalsozialistische Propagan-
da hat lange angedauert und ist in
neonazistischen Kreisen bis heute
zu finden.
Auch die Wahl des Karmel als
„ihr Kloster“ hängt mit der Ver-
wurzelung im Judentum zusam-
men, denn der Berg Karmel spielt
in der Geschichte des Volkes Israel
mit Gott eine entscheidende Rolle.
Auch hier ergab sich eine Verbin-
dung zum Neuen Bund in Teresia
von Avila, der Kirchenlehrerin aus
dem Karmel, deren Lebensbeschrei-
bung Edith Stein starke Impulse zur
Konversion vermittelt hat. Deshalb
wählte sie als ersten Ordensnamen
Teresia; der zweite, Benedicta, be-
zieht sich auf die benediktinische
Spiritualität, die sie besonders in der
Benediktinerabtei Beuron kennen
gelernt hatte; und a Cruce wählte sie
im Hinblick auf den gekreuzigten
Messias, der aus ihrem Volk gekom-
men ist und dessen Nachfolge sie
durch ihren Klostereintritt angetre-
ten hatte...
Der Opfergang
Von Beginn ihres Christseins an
erfüllte Edith Stein eine tiefe Sehn-
sucht, Jesus im Leiden nachzufol-
gen bis zum Licht der Ewigkeit.
Dieses Licht ersehnte sie sich auch
für ihr Volk, auf dem sie in der Ver-
folgung des Dritten Reiches das
Kreuz Christi lasten sah. Sie wie
auch ihre Gefährten und Gefährtin-
nen auf dem Weg in die Gaskam-
mern nahmen dieses Kreuz für ihr
Volk bewusst auf sich, um dazu bei-
zutragen, dass ihm die Augen ge-
öffnet werden für den Erlöser. Das
geht aus Briefen und Berichten
hervor, die im und über das Lager
Westerbork geschrieben worden
sind, der letzten Station vor dem
Abtransport nach Auschwitz. Die
verzweifelten Inhaftierten – den Tod
vor Augen – erlebten in den jüdi-
schen Christen Menschen, die sich
ihnen zuwandten und sie trösteten,
obgleich sie sich in derselben aus-
sichtslosen Situation befanden. Ihr
Forum Deutscher Katholiken
Referate:
&9679;
Prof. Dr. Karl Wallner, O. Cist, Heiligenkreuz/Wien: „Ich habe dich
beim Namen gerufen – der Mensch im Blick Gottes“
&9679;
Prof. Dr. Volker Herzog, Bonn: „Die Menschenmacher – Der Mensch
als Schöpfer des Menschen?“
&9679;
Leo Kardinal Scheffczyk, München: „Gebenedeit unter den Frauen“
&9679;
Dr. Jeanette Siad, Straßburg: „Mitarbeiterin in Christus Jesus (Röm.
16,3) Die Rolle von Frauen in der Evangelisierung der Völker.“
&9679;
Prof. Dr. Jörg Splett, Frankfurt: „Schön, katholisch zu sein“
&9679;
Prof. Dr. Rocco Buttiglione, ital. Europaminister, Rom: „Europa –
Lebe aus deinen christlichen Wurzeln!“
&9679;
SKH Dr. Otto von Habsburg, Internat. Präsident der PANEUROPA-
Bewegung: „Gott als Quelle der Schönheit“
Podien:
&9679;
Moderator: Martin Lohmann, Chefredakteur der „Rhein-Zeitung“
Podiumsgespräch: „Zu sich selbst kommen! – Die Annahme seiner
selbst“.
&9679;
Moderator: Alex Dorow, Nachrichtensprecher beim Bayer. Rundfunk
Podiumsgespräch: „Alleinstehen muss nicht Einsamkeit bedeuten“
&9679;
Moderator: Bernhard Müller, Chefredakteur PUR-Magazin
Podiumsgespräch „Erfahrungen mit neuen Formen der
Evangelisierung“
Kongress „Freude am Glauben“
vom 14. – 16. Mai 2004 in Regensburg
Glaube an Jesus, den Messias, gab
ihnen Mut und Kraft, den Weg des
Opfers in Gebet und in der Hin-
wendung zum Nächsten zu gehen,
wie es der Herr vorgelebt hatte. Am
Ende stand für sie die Hoffnung auf
die ewige Heimat.
Edith Stein opfert sich bereits in
ihrem Testament, das sie 1939 im
Karmel von Echt geschrieben hat,
ganz auf und nimmt „den Tod, den
Gott mir zugedacht hat, in vollkom-
mener Unterwerfung unter seinen
heiligen Willen mit Freuden ent-
gegen“. Sie schließt in diesen Tod
fürbittend alles ein, was ihr am Her-
zen liegt, besonders aber „den Un-
glauben des jüdischen Volkes und
damit der Herr von den Seinen auf-
genommen werde und sein Reich
komme in Herrlichkeit“. Sie bittet
auch „für die Rettung Deutschlands
und den Frieden in der Welt“ sowie
für ihre Angehörigen und Freunde,
„dass keines von ihnen verloren
gehe“.
Unser Glaube erfährt eine wun-
derbare Bereicherung, wenn wir
uns bewusst machen, dass Jesus
Christus, der Erlöser von Welt und
Menschheit, aus dem kleinen, von
Gott erwählten Volk Israel hervor-
gegangen ist. Er trug sein Wesen
und seine Charakteristika an sich,
lebte in ihm und aus seiner Traditi-
on, besonders der des Psalmen-
gebetes, das Grundlage ist für das
Gebet der Kirche und damit eine
Brücke bildet zwischen Altem und
Neuem Bund. Edith Stein hat 1930
über das „Gebet der Kirche“ eine
Abhandlung geschrieben, in der sie
sagt: „Jedes echte Gebet ist Gebet
der Kirche: durch jedes echte Ge-
bet geschieht etwas in der Kirche
und es ist die Kirche selbst, die darin
betet, …“ Dieses Gebet der Kirche
wurzelt tief im Glauben der Prophe-
ten und der alttestamentlichen Vä-
ter, deren Verheißungen in Jesus,
dem Messias, Erfüllung finden.
Dafür haben Edith Stein und ihre
Schicksalsgefährten gelebt und sind
den Opferweg der Nachfolge bis zur
letzten Konsequenz gegangen, um
dadurch die Botschaft der Erlösung
weiterzutragen zu dem Volk Israel
und zu uns.
§
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DER FELS 12/2003
D
ie Familienfrage ist die
Schlüsselfrage für die Zu-
kunft der Sozialversiche-
rung. Es geht nicht, wie die Medien
jetzt mit Talkshows und zahllosen
Artikeln vorgaukeln, um einen Ge-
gensatz zwischen Alt und Jung. Die
Rentner haben die jüngsten Be-
schlüsse der Regierung, ihnen im
kommenden Jahr eine Nullrunde
zuzumuten, relativ gelassen zur
Kenntnis genommen. Die Statistik
weiß warum: In keiner Bevölke-
rungsgruppe gibt es so wenig
„Arme“ wie bei den Personen über
65 Jahren. Allerdings gilt auch:
Heute werden vor allem die Mütter
um den Alterslohn für ihre Lebens-
leistung geprellt. Mehr als 75 Pro-
zent der Frauenrenten liegen unter
Sozialhilfeniveau. Das ist, wie der
renommierte frühere Verfassungs-
richter Paul Kirchhof erst jüngst
schrieb, ein „rechtsstaatlicher Skan-
dal“. Dennoch, die Zahl der Sozial-
hilfeempfänger unter den Senioren
stagniert, bei den Jungen steigt sie
sprunghaft – mit ihr die Angst, eine
kinderreiche Familie zu gründen
oder unterhalten zu müssen. Denn
das sei, wie der ehemalige Caritas-
Präsident öffentlich beklagte, ein
sicherer Weg zum Ruin.
Nein, es geht heute um den Ge-
gensatz innerhalb der Generatio-
nen, und zwar zwischen denen, die
Kinder haben auf der einen und den
Kinderlosen auf der anderen Seite.
Hier vor allem ist die Gerechtigkeits-
lücke zu orten und zu beheben. Und
betroffen von der Lücke sind vor
allem die Mütter. Sie sind die stillen
Helden der Nation, die Zukunfts-
sicherer und zugleich die Sklaven
des Systems.
Heute werden rund 25 Prozent
der kinderlosen oder kinderarmen
Personen über die Sozialsysteme
von den Kindern anderer Leute ver-
Familienwohl und Gemeinwohl
Zur Gerechtigkeit zwischen den Generationen / Teil II und Schluss
Von Jürgen Liminski
sorgt, 2030 werden es bereits fünf-
zig Prozent sein. Dabei ist natürlich
zu bemerken, dass es bei den Tritt-
brettfahrern des Systems nicht um
diejenigen geht, die unverschuldet
kinderlos sind. Diese Gruppe hat
sich mit diesem Schicksal meist ab-
gefunden und Lösungen nicht nur
für ihre Altersvorsorge gefunden,
sondern auch für ihren sozialen
Beitrag. Aus dieser Gruppe kom-
men zum Beispiel viele ehrenamt-
liche soziale Engagements. Es wäre
ungerecht, sie mit den bewusst kin-
derlosen Singles in einen Topf zu
werfen. Die bewusst und gewollt
kinderlos Bleibenden sind die Tritt-
brettfahrer des Systems. Man findet
nicht wenige von ihnen auch in der
Politik, was zu einem guten Teil er-
klären mag, warum die Reform-
debatte so quer läuft und warum die
Debattierer sich nicht mit der wan-
delnden Struktur des Sozialstaats,
sondern fast nur mit den Sympto-
men der Krise, den Löchern in den
Kassen, befassen.
Zum Beispiel Schröder und Fi-
scher, die späten Heroen der 68er-
Generation, deren Politiker-Rente
sich nach wenigen Jahren schon auf
das zigfache beläuft. Sie haben kei-
ne eigenen Kinder, jedenfalls ist von
eigenen nichts bekannt. Sie sind
Prototypen einer Generation, die
Mitte der sechziger in das biolo-
gisch elternfähige Alter kam und auf
dem Trittbrett des Systems kinder-
los durch die Institutionen rausch-
te. Ihre Kinder fehlen heute in der
Erwerbsbevölkerung, mit ihnen die
Beitragszahler für das System. Und
zwar nicht nur bei der Rente, son-
dern auch im Gesundheitswesen,
bei der Pflege, bei der Arbeitslosen-
versicherung, kurz: bei allen um-
lagefinanzierten Sozialsystemen.
Langsam wird im Morgennebel der
Flurschaden sichtbar, der in der
durchzechten Nacht der Revolutio-
näre in Hirn und Herz der jungen
Menschen angerichtet wurde. Am
schlimmsten wüteten die Parolen
gegen die sogenannte traditionelle
Familie. Hier wurde im Rausch die
Zukunft verspielt. Und ebenso
schlimm war, dass die Politik in
den letzten drei, vier Jahrzehnten
nicht reagierte, sondern der Seuche
der antifamiliären Haltung, dem
Ich-Denken und der damit verbun-
denen Verhütungsmentalität freien
Lauf ließ.
Es ist politisch nicht korrekt, dar-
auf hinzuweisen, und kein Politiker
traut sich, es zu sagen: Sie tauchen
bei den Variablen nicht auf, die ab-
getriebenen und verhüteten Kinder,
aber sie stecken im Minus, und des-
halb wird die intragenerationelle
Verteilungsfrage nicht irgendwann
in 2015, 2025 oder 2030 zu ent-
scheiden sein, sondern heute, im
Herbst und Winter 2003/4. Wird sie
nicht entschieden, drohen Deutsch-
land wegen der anstehenden Serie
Die vereinfachte Rentenformel: Die
ausführliche Rentenformel hat sehr
viel mehr Variablen und ist ein
Hochgenuss für Mathematiker. Den
Politikern bereitet sie Kopfzerbre-
chen. Denn so sehr und soviel sie
auch damit herumrechnen, irgend-
wie geht die Gleichung nicht auf:
es kommt immer ein Minus heraus.
Die Rentenformel
Rentenartfaktor
x Engeltpunkte
x Zugangsfaktor
x aktueller Rentenwert
= Monatsrente
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DER FELS 12/2003
345
F
olgende Zeilen sind einem
Aufsatz des Darmstädter
Sozialrichters Dr. Jürgen Bor-
chert entnommen. Sie resümieren
die demographische Situation und
die Folgen der Kinderlosigkeit.
D
er Dreißigjährige Krieg (1618
-1648) gilt als die größte Tra-
gödie deutscher Geschichte.
Deutschland verlor etwa 30 bis 40
Prozent seiner Bevölkerung, und
es dauerte weit über 100 Jahre, bis
der Vorkriegsstandard der Le-
benshaltung wieder erreicht wur-
de. Etwa die gleiche Größenord-
nung wird die Bevölkerungs-
schrumpfung in Deutschland bis
zum Jahr 2030 ausmachen. Die
Geburtenrate in Deutschland
sinkt seit 1967. Seit 1972 liegt
sie unter jener der bittersten
Kriegsjahre 1917/18 und 1945.
Wurden 1965 in Gesamtdeutsch-
land noch 1. 325 Millionen Kin-
der geboren, waren es 1999 gera-
de mal 771 000 und damit rund
42 Prozent weniger. Und das, ob-
wohl die geburtenstarken Jahr-
gänge von damals nun die Eltern-
generation stellen! Hält diese Ent-
wicklung weiter an, kann man
sich die Folgen an den Fingern
einer Hand abzählen. Dann wer-
den wir 2030 nur noch 470 000
Geburten zählen. Die Generation
junger Frauen, „das grüne Holz
des Lebensbaumes“, wird im Jahr
2030 gegenüber ihrem Anteil zu
Beginn der 70er Jahre schon um
70 Prozent abgenommen haben.
Gleichzeitig steigt die Lebenser-
wartung. Deutschland wird zum
Seniorenweltmeister: Ist heute je-
der zweite Mann älter als 37 und
jede zweite Frau älter als 40 Jah-
re, wird im Jahr 2030 jeder zwei-
te Mann über 48 und jede zweite
Frau über 51 Jahre alt sein. Wenn
man weiß, dass international kon-
kurrierende Konzerne wie IBM
bereits 50-jährige in den Vor-
ruhestand schicken, ahnt man die
Konsequenzen für den Wirt-
schaftsstandort. Dabei hatte
Deutschland (hinter Irland) noch
bis Mitte der 60er Jahre in Europa
die höchste Geburtenrate. Damals
blieb nur etwa jeder zehnte kinder-
los, während der Anteil der lebens-
lang Kinderlosen heute bei vierzig
Prozent liegt. Und obwohl die
Mehrkinderfamilie damals die ge-
sellschaftliche Norm darstellte, war
der sogenannte Familienlasten-
ausgleich dennoch unvergleichlich
besser als heute.
Die Perspektiven für Deutschland
sind grau. Heute schon fehlt in
Schlüsselbranchen und im Hand-
werk der Nachwuchs; Konzerne wie
Procter&Gamble stellen bereits ihre
Windelproduktion ein. Die Exper-
ten erwarten eine Vollbremsung der
Wirtschaft. Gleichzeitig warnen sie
vor dem dramatischen Anstieg der
sozialen Lasten – Rente, Pflege, Ge-
sundheit. Aber die Politik will den
Ernst der Lage offensichtlich nicht
sehen, sondern verharmlost: Man
könne die defizitäre Geburten-
entwicklung durch Zuwanderung
ausgleichen, die Bevölkerungs-
entwicklung entlaste doch den Ar-
beitsmarkt und sei ökologisch wün-
schenswert, weniger Kinder wür-
den auch die Staatskasse entlasten,
und endlich litten auch die meisten
anderen europäischen Länder unter
denselben Problemen. Das ist,
Punkt für Punkt, kapitaler Selbst-
betrug:
Erstens: Entlastung der Staats-
kasse: Jawohl, von diesem Blick-
punkt aus hätten wir am besten gar
keine Kinder! Absurd!
Zweitens: Zuwanderung: Wenn,
was richtig ist, überall in Europa
Kinder fehlen, dann kann Zuwan-
derung nur aus außereuropäischen
Regionen kommen, und es müss-
ten, um nur den Bevölkerungsstand
zu halten, jedes Jahr rund 500 000
Ausländer zu uns kommen; die
Altersstrukturen würden dadurch
aber höchstens minimal verändert.
Diese Menschen müssen darüber
hinaus integriert werden, was einen
gigantischen Aufwand an sprachli-
cher, schulischer und beruflicher
Ausbildung erfordert. Dieser
kommt zu den ohnehin zu bewäl-
tigenden Lastenzuwächsen im so-
zialen Bereich ja noch hinzu. Un-
terlassen wir die notwendige In-
tegration aber, dann drohen uns
womöglich bürgerkriegsähnliche
Zustände, wie sie heute schon in
manchen französischen Großstäd-
ten an der Tagesordnung sind.
Nicht von der Hand zu weisen ist
überdies die Gefahr, dass die Zu-
wanderer auch ihre ethnischen und
politischen Konflikte aus den Hei-
matländern – siehe Kurden und
Türken in Deutschland – impor-
tieren; der Sicherheitsbedarf
steigt. Nehmen wir nur die am
besten ausgebildeten Arbeitskräf-
te der Dritten Welt, dann schaf-
fen wir für die Herkunftsländer
genau die wirtschaftlichen und
sozialen Probleme, die wir heute
mittels der Entwicklungshilfe ei-
gentlich beseitigen wollen. Nach-
dem der Erfolg der „greencard“
auf sich warten lässt, stellt sich
sogar die Frage, ob die Besten
überhaupt ausgerechnet zu uns
kommen wollen. Die USA, Ka-
nada, Australien sind vielleicht
attraktiver. Umgekehrt machen
sich überdies immer mehr der
begabtesten Nachwuchswissen-
schaftler Deutschlands auf ins
Ausland. Fazit: Das Zuwander-
ungskonzept bietet überhaupt
keine realistische Lösungs-
möglichkeit.
Drittens: Genauso illusorisch
sind die Arbeitsmarkterwartun-
gen. Denn weniger Kinder be-
deuten weniger Wirtschafts-
wachstum und weniger Bedarf an
Kindergärtnerinnen, Lehrern so-
wie Professoren, gleichzeitig
drängen immer mehr Frauen auf
den Arbeitsmarkt und viele Fir-
men schließen ihre Betriebe, wie
das Beispiel Procter&Gamble
zeigt. Abnehmende Kinder-
zahlen lassen deshalb eher stei-
gende als sinkende Arbeitslosen-
zahlen erwarten.
Fatale Folgen
Von Jürgen Borchert
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DER FELS 12/2003
der Landtagswahlen weitere Jahre
der Stagnation. Die Demographie
aber stagniert nicht. Die Problema-
tik würde sich verschärfen.
Eigentlich ist die Frage schon ent-
schieden. Sogar seit langem, seit dem
Trümmerfrauenurteil des Bundesver-
fassungsgerichts vom 7.7.1992.
Darin wurde dem Gesetzgeber auf-
gegeben, die sogenannte „Transfer-
ausbeutung der Familien“ zu be-
enden und die verzweifelte Situati-
on der Familien im Steuer- und So-
zialsystem mit jedem Gesetzge-
bungsschritt zu verbessern; soweit
die Benachteiligungen durch die
jeweiligen Sozialversicherungs-
systeme verursacht würden, seien
sie dort zu beseitigen. Nach elf Jah-
ren steht fest, dass dieser Verfas-
sungsauftrag nicht nur nicht erfüllt
wurde, sondern sich die ohnehin
desolate Lage der Familien relativ
zu Nichtfamilien sogar noch ver-
schlechtert hat.
Diese hartnäckige Verweigerung
des Gesetzgebers (also nicht nur der
Rotgrünen Ideologen, sondern auch
der familienvergessenen Kohl-Re-
gierungen) hat das BVerfG gezwun-
gen, die intragenerationelle Vertei-
lungsfrage am Beispiel der Pflege-
versicherung noch einmal zu prä-
zisieren und dabei die „Beitrags-
äquivalenz“ der Kindererziehung
besonders zu betonen. Dem Gesetz-
geber wurde eine Frist zur familien-
gerechten Korrektur der Pflegever-
sicherung sowie zur Vorlage eines
Gesamtkonzepts für die übrigen
Systeme bis zum Jahresende 2004
gesetzt.
Die Reformpläne der Bundesre-
gierung wie der Opposition setzen
sich jedoch, wie einer der schärfs-
ten Kritiker der Sozialpolitiker aller
Parteien, der Heidelberger Sozial-
richter Jürgen Borchert ausführt,
„komplett über die Vorgaben der
Verfassungsurteile hinweg: Ob Fi-
nanzierung der Familienkompo-
nenten bei der Sozialversicherung
durch die Steuern (Herzog) oder
2,50 Euro mehr Pflegebeitrag für
Kinderlose, ob Rentenkürzungen
aus demographischen Gründen für
Eltern und Nichteltern im gleichen
Maß oder andere Maßnahmen – all
das ist unvereinbar mit den Aufträ-
gen der Verfassungsjudikatur. Die
Kürzungen im gleichen Ausmaß für
Eltern wie Nichteltern beinhalten
unter Berücksichtigung der Tatsa-
che, dass Eltern gemeinsam in der
Regel weit niedrigere Renten-
anwartschaften besitzen als kinder-
lose Vollverdiener, wegen der re-
gressiven Minderungswirkung
sogar eine gesteigerte Haftung der
Eltern für die demographischen
Verantwortlichkeiten von Nicht-
eltern“.
Besonders plastisch werde die
Weigerung der Legislative am Bei-
spiel der Rentenfinanzierung durch
die Ökosteuer, die ja angeblich als
„Bundesbeitrag“ zur Finanzierung
der Erziehungszeiten ins System
gepumpt wird: Hier werden, so
Borchert, „Eltern gezwungen, über
ihre überproportionale Beteilung an
Nachdenken über den Generatio-
nenvertrag: Es gibt sie noch, die
traditionelle Familienbande. Mehr
als 80% aller Kinder in Deutschland
leben bis zum 18. Lebensjahr im
Haushalt ihrer leiblichen Eltern. Die
Politik aber scheint vor allem die
Randgruppen im Auge zu haben.
Darüber muß man nachdenken.
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DER FELS 12/2003
347
der Ökosteuer auf ihre genuinen
und originären Erziehungsbeiträge
für das System noch einmal, und
zwar überproportional, Ökosteuer-
beiträge zu zahlen! Dabei handelt
es sich derzeit um mindestens rund
16 Mrd. Euro, die so unter unver-
dächtiger Etikette ins Rentensystem
gepumpt werden; da aktuell jedoch
kaum mehr als 3 Mrd. Euro zur lau-
fenden Abdeckung der Babyjahr-
Valutierung benötigt werden und
eine Ansparung der überschies-
senden Beträge nicht erfolgt, ver-
stößt dieses Verfahren auch gegen
§ 153 SGB VI (Umlageverfahren)“.
In der Tat: Wohin man im Sozial-
system schaut, trifft man auf ver-
fassungswidrige Regelungen, die
nicht beseitigt, sondern sogar Jahr
um Jahr und Reform um Reform
noch verschärft werden – ein Skan-
dal ohne Beispiel in der Sozialge-
schichte der Bundesrepublik. Dass
er nicht im notwendigen Maß publik
und diskutiert wird, hängt offenbar
mit der Komplexität und Intrans-
parenz der Systeme sowie der
Informationsmonopole der Versi-
cherungsträger und Ministerien zu-
sammen. Aber die Experten in den
Ministerien und in den Parteien
müssten es sehen. Die Politik ver-
hält sich wie zwei der drei berühm-
ten Affen: Nichts sehen, nichts hö-
ren. Und beim dritten Affen verhal-
ten sie sich genau umgekehrt: Un-
ablässig preisen sie die Wohltaten
ihrer jeweiligen Parteien und ver-
schweigen, dass alle Reformschritte
der letzten Jahre auf Druck aus
Karlsruhe zustande gekommen
sind.
Die Verweigerung in allen Partei-
en hat vermutlich eine gemeinsame
Ursache. Es ist die Weigerung, der
Wahrheit ins Auge zu schauen und
zu sehen, dass alle Parteien jahr-
zehntelang versagt und die Fehler
im System immer wieder fortentwi-
ckelt oder zugedeckt haben, statt sie
an der Wurzel zu beheben. Das
(Umlage-) System ist nämlich mit
einem Geburtsfehler auf die Welt
gekommen. Auf den Hinweis, dass
die Erwerbsbevölkerung nicht nur
auf einer, sondern auf zwei Schul-
tern trage – auf der einen die Rent-
ner, also die Renten, auf der ande-
ren die Kinder, also die Erziehung
– , soll Adenauer seine berühmte
Antwort gegeben haben: „Kinder
kriegen die Leute immer“. Das
stimmte zu seiner Zeit, so dass er
die Warnung seines Rentenexperten
Wilfried Schreiber vom Bund Ka-
tholischer Unternehmer nicht ernst
nahm. Schreiber hatte darauf ge-
drungen, beide Schultern zu entlas-
ten und folgerichtig nicht nur eine
Rentenkasse, sondern auch eine
Familienkasse einzurichten, in die
ähnlich wie für die Renten, ein Teil
des Einkommens einzuzahlen wäre
und aus der dann die Familien ent-
sprechend ihrer Kinderzahl entlas-
tet, beziehungsweise für ihre Er-
ziehungsarbeit entlohnt werden soll-
ten. Dann wäre der Generationen-
vertrag stabil und gerecht. Adenauer
hielt das nicht für notwendig, weil
eben die Leute alle Kinder hätten
und somit das Unrecht für alle mehr
oder weniger gleich wäre. Ein fol-
genschwerer Irrtum. Zum einen war
die Belastung schon damals je nach
Kinderzahl unterschiedlich, zum
anderen trat genau ein, was Schrei-
ber geradezu prophetisch voraus-
sah: Es könnte ja sein, dass man-
che Leute keine Kinder bekommen
wollen und dann von dem System
auf Kosten der Familien profitierten.
Auch die Nachfolger Adenauers
hielten eine Korrektur dieses Ge-
burtsfehlers nicht für nötig. Sie sa-
ßen alle in der „Falle der Selbstver-
ständlichkeit“, wie der öster-
reichische Familienforscher Helmut
Schattovits es formuliert. Sie hiel-
ten Familie für eine historische Kon-
stante, unwandelbar, evident und
eben selbstverständlich. Selbst als
die Zahlen von der „demographi-
schen Zeitenwende“ (Herwig Birg)
auf dem Tisch lagen, Ende der acht-
ziger Jahre nach der Arbeit der
Bundetagsenquete-Kommission
Demographischer Wandel, und es
absehbar wurde, dass sich im sozi-
alen Gefüge Deutschlands eine
immer breiter werdende Gerechtig-
keitslücke auftat, unternahm die
Regierung Kohl nur wenig, um die
Talfahrt aufzuhalten. Die Rotgrünen
schließlich hoben das Wenige, den
demographischen Faktor im Ren-
tensystem etwa, noch auf. Der Ver-
lust wird auf rund drei Milliarden
Euro geschätzt. Die fehlen in der
Rentenkasse, aber es fehlt viel
mehr. Es fehlt die Gerechtigkeit, die
Korrektur des Geburtsfehlers, ohne
den der Generationenvertrag keine
Zukunft hat.
Dem Geburtsfehler entsprach ein
Mentalitätsirrtum in Nachkriegs-
deutschland. Man hielt Familie
nach den Erfahrungen der Diktatur
für reine Privatsache – das ist
übrigens natürlich, Familie ist in
Diktaturen immer die letzte Zuflucht
gewesen. Das war außerdem vor-
gegeben von der Wirtschafts-
wissenschaft. Hier wird auch der
Zusammenhang deutlich zwischen
dem Glück der Familie und dem der
Gesellschaft. Die Utilitaristen, allen
voran der Brite Bentham, aber vor
ihm auch schon der große Ökonom
Adam Smith, begründen ihr Kon-
zept vom Sittengesetz mit einer nu-
merischen Idee vom Gemeinwohl,
wenn sie sagen, dass „das größte
Glück der größten Zahl“ der Inbe-
griff der verwirklichten Sittlichkeit
sei. Wie immer man zu dieser The-
orie steht, sie hat den Begriff des
Glücks, happiness, immerhin im
politischen Diskurs verankert – in
Amerika sogar in der Verfassung als
pursuit of happiness – und ist heute
das beherrschende Prinzip im demo-
kratischen Wohlfahrtsstaat. Aber
eben als Zahlenidee, nicht als Werte-
kategorie. Ausdruck fand dieses
Denken im durchaus positiven Slo-
gan der sozialen Marktwirtschaft:
Wohlstand für alle.
So wie Adenauer und Erhard
dachten viele. Kein Wunder. Das
Land wuchs erst aus den Trümmern,
die Nachkriegsgeneration war mit
dem Rentensystem zufrieden, es
war das erste, und es gab einen
Wertekonsens. Dieser Konsens ging
dann in den sechziger Jahren in die
Brüche. Es ist müßig, darüber zu
debattieren, ob die Kriegsgenera-
tion ihren Nachwuchs zu mehr
Wertebewusstsein hätte erziehen
sollen oder können. Dieser Prozess
ist gelaufen und Teil der Geschich-
O
hne die Korrektur seines
Geburtsfehlers hat der
Generationenvertrag keine
Zukunft.
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DER FELS 12/2003
D
ie Weihnachtsgeschichte ist
eine reiche Geschichte –
von Armut und Vertreibung,
von den reinen Herzen der Hirten
und den bösen der Herrscher. Aber
menschliche Schwäche und göttli-
che Güte sind in ihr allgegenwärtig,
und deshalb ist die Weihnachts-
geschichte auch eine Geschichte der
Versöhnung.
Sie wiederholt sich seit zweitau-
send Jahren. Auch mitten unter uns.
Zum Beispiel in Nordirland. Die
Benediktiner haben in dem Ort
Rostrevor in der Nähe der Kleinstadt
Down ein Kloster errichtet mit einer
Art Forum, damit Katholiken und
Protestanten organisiert ins Gespräch
kommen und ihre gegenseitigen,
von Politik und nationalistischen
Ideen geprägten Vorurteile abbauen.
Und sie haben Erfolg damit. Seit fünf
Jahren führen sie Menschen zusam-
men und gemeinsam zu Christus.
Das Zentrum wächst, dank der Un-
terstützung kirchlicher Werke, zum
Beispiel „Kirche in Not“, der von
Pater Werenfried van Straaten zu
Weihnachten 1947 gegründeten
Hilfsorganisation. Dieses Hilfswerk
hat sich der Versöhnung unter dem
Zeichen des Kreuzes verpflichtet.
Das Charisma des Weihnachts-
geschehens ist für dieses Werk we-
te, übrigens nicht nur in Deutsch-
land. Parallel zu der Relativierung
aller Werte, dem Aufkommen eines
Materialismus – das Wirtschafts-
wunder wurde zur Inkarnation des
nationalen Ziels – entstand eine
Verhütungsmentalität, die auf Si-
cherheit und Wohlstand und seine
Vermehrung ausgerichtet war und
alles vermeiden wollte, was diese
Ziele beeinträch-
tigen könnte.
Werte aber sind
nicht immer eine
kommode Ange-
legenheit, sie
können Geld und
Anstrengung
kosten. Kinder
zu haben und zu
erziehen stört das
Wohlstandsdenken und, wichtiger
noch: das Sicherheitsdenken. Erst
viel später, in unseren Tagen, er-
kannte man in den politischen Krei-
sen, dass Kinder Zukunft und da-
mit auch Sicherheit bedeuten. Aber
es ist vielleicht schon zu spät,
jedenfalls nicht mehr rechtzeitig,
um die Polarisierung innerhalb der
Generationen zu überdecken und
die Gerechtigkeitslücke zu überbrü-
cken. Die Korrektur des Geburtsfeh-
lers wird nur noch operativ gelin-
gen. Der Eingriff wird schmerzhaft
sein, und er kann nur, wenn die
Gerechtigkeitslücke geschlossen
werden soll, zu Lasten des Wohl-
stands der Kinderlosen gehen.
Denn diese haben den Wohlstand
per Systemtransfer von den Famili-
en geborgt.
Die Operation ist dringend. Ohne
Familie versiegt der Gemeinsinn.
Ohne den Humus Familie verdorrt
die Solidarität. Es kommt darauf an,
der Familie den Freiraum zu lassen,
damit diese Quelle das gesellschaft-
liche Feld befruchten kann. Wer die
Familie erobern oder instrumenta-
lisieren will, hat keine Ahnung von
dieser Lebensquelle der Gesell-
schaft. Wer die Familie zerstört, ver-
schüttet diese Quelle. Die Stärke
einer Nation lebt von der Stärke ih-
rer Familien, sagte Johannes Paul II.
vor der UNO. Deswegen ist es
zukunftsentscheidend für ein Volk,
dass die Familien leben und die
Früchte ihrer Erziehung weiterge-
ben können. Das braucht die Ge-
sellschaft, denn „Erziehung ist
Beschenkung mit Menschlichkeit“,
wie Johannes Paul II. in seinem
Brief an die Familien schreibt. Ohne
dieses Geschenk (der Eltern an die
Kinder) wird die Gesellschaft käl-
ter – und riskanter. Zur Menschlich-
keit gehört der Sinn für Freiheit.
Paul Kirchhof weist, Montesquieu
zitierend, auf die gesellschaftliche
Bedeutung der Familie für eine frei-
heitliche Gesell-
schaft hin, wenn
er die Kausal-
kette aufstellt:
Ohne Familie
keine wirksame
Erziehung, ohne
Erziehung keine
Persönlichkeit,
ohne Persön-
lichkeit keine
Freiheit. Man könnte anschließen:
Ohne freiheitsbewusste Bürger kei-
ne Demokratie.
Mehr noch: „Aus der Familie er-
wächst der Friede für die
Menschheitsfamilie“, schrieb Papst
Johannes Paul zum Jahr der Fami-
lie 1994. „Die Familie in eine un-
tergeordnete und nebensächliche
Rolle zu versetzen, sie aus der ihr
in der Gesellschaft gebührenden
Stellung auszuschließen, heißt, dem
echten Wachstum des gesamten
Sozialgefüges einen schweren Scha-
den zu zufügen.“ Dieser Schaden
hat heute einen Namen. Es ist die
systembedingte Gerechtigkeits-
lücke zwischen den Familien und
willentlich Kinderlosen, nicht zwi-
schen Alt und Jung. Im Gegenteil,
zwischen den Generationen funkti-
oniert der Generationenvertrag noch
und manchmal sogar besser als
zuvor. Viele Großeltern helfen ih-
ren Kindern. Es findet ein Aus-
tausch an Großzügigkeit statt, eine
jener Voraussetzungen wieder, von
der der Staat lebt, die er aber nicht
geschaffen hat. Dieser inner-
familiäre Austausch wird zahlen-
mäßig dünner. Das System zehrt die
Familie aus, es muss strukturell ge-
ändert werden. Dazu gehört auch
das Umdenken. Der Befund Ende
der siebziger Jahre war richtig: Es
bedarf auch einer geistig-morali-
schen Wende. Sie fand in der Ära
Kohl nicht statt. Sie ist immer noch
nötig. Ohne Sinn für Werte und
Wahrheit wird es kein gerechtes
System geben.
O
hne Familie keine wirksa-
me Erziehung, ohne Erzie-
hung keine Persönlichkeit,
ohne Persönlichkeit keine Frei-
heit.
Montesquieu
§
Page 13
DER FELS 12/2003
349
Weihnachten – Urfest der
Versöhnung
Denkanstöße aus gegebenem Anlass
Von Franz Salzmacher
sentlich. Es ist ein Werk der Versöh-
nung weltweit geworden. Jetzt wol-
len die Benediktiner das Kloster aus-
bauen.
Ein anderes Beispiel ist die Un-
terstützung für ehemals Drogenab-
hängige, die in Brasilien in soge-
nannten „Farmen der Hoffnung“
wieder arbeiten lernen und der Fro-
hen Botschaft folgen und sich so mit
sich selbst und mit Gott versöhnen.
Auch in Deutschland gibt es in der
Nähe von Berlin zwei dieser Farmen.
Oder die katholische Universität
Bethlehem, die einzige höhere ka-
tholische Bildungseinrichtung im
Heiligen Land. Von den rund 2000
Studenten sind ein Drittel Christen,
die anderen Muslime. Auch hier im
Heiligen Land geschieht die Versöh-
nung ähnlich wie in Nordirland un-
terhalb der politischen Ebene. Dort,
wo Menschen zusammenkommen
im Geist des Evangeliums, dort ist
Er mitten unter ihnen und sein Ge-
schenk ist eben die Versöhnung.
In genau diesem Sinn sprach Papst
Johannes Paul II. den Studenten und
Professoren in Bethlehem bei seinem
Besuch im März 2000 Mut zu: „Habt
keine Angst, die christliche Präsenz
und das Erbe an genau dem Ort auf-
recht zu erhalten, wo der Erlöser
geboren wurde.“ Habt keine Angst
– trotz der Lebensumstände, trotz
der Anfeindungen. Wer Versöhnung
sucht, sucht mit Gott. Wer den Men-
schen sucht, der findet Gott. Wer Gott
sucht, der findet den Menschen. Das
ist die Botschaft von Weihnachten,
der Menschwerdung Gottes. „Das
Wort ist Fleisch geworden und hat
unter uns gewohnt“ (Joh. 1,14) – in
Bethlehem ist es aus der Geborgen-
heit des Mutterschosses in die Welt
getreten. Die katholische Universi-
tät ist die Krippe des Wortes. Das
Kloster in Nordirland ist wie die
Grotte, vor der sich die Hirten aus
der Umgegend versammeln.
Die Weisen und die Hirten fanden
das Kind in der Krippe. Das war vor
zweitausend Jahren. Es ist immer
noch da. Es wartet, an den leeren
Tischen so vieler Familien in Latein-
amerika, vor den Lehmhütten in Af-
rika, in den Unterschlüpfen und Ka-
takomben, in denen die Christen in
China sich verstecken müssen, in
den geplünderten und ausgeraubten
Missionsstationen in Ruanda, Kon-
go, Angola oder Nigeria. Überall auf
dieser Welt lächelt uns das Kind aus
der armseligen Krippe zu, überall hat
das Heil „Fleisch angenommen“,
wartet es in einer konkreten Gestalt
auf die Geste der Hirten und all de-
rer, die an die Krippe herantreten. Es
rettet auch ohne Geschenke. Die
Menschwerdung, sein Tod, seine
Auferstehung – das sind Seine Ge-
schenke.
Es waren nicht viele Menschen,
die von dem Kind in der Krippe er-
fuhren. Die junge Mutter, Maria, er-
schöpft aber glücklich, „bewahrte
alle diese Dinge und erwog sie in
ihrem Herzen“. Josef, wie immer
bescheiden im Hintergrund, wird in
diesen Momenten Gott gedankt ha-
ben. Und unter den Hirten wird man-
ches Kind gewesen sein, das mit gro-
ßen Augen die Sternen- und
Krippenszene mit den Engeln be-
trachtete. Viele Kinder können auch
heute noch staunend die Lichter des
Festes bewundern, die inneren und
die äußeren, das Licht, das im Her-
zen aufgeht und das Strahlen der
Gesichter. Aber wie viele Kinder-
augen sind müde geworden! Müde
von der Flucht, müde vom Hunger,
müde von der Last, die Liebsten ver-
loren zu haben, müde von der Last
des Konsums, vom Materialismus,
der die Herzen verengt. Und wie vie-
le Kinderaugen haben nie das Licht
der Welt erblickt! Auch heute geht
Herodes umher und sucht, wen er
vernichten könne. Mit Weihnachten
aber begann eine neue Ära, die Zeit
der Kultur des Lebens. „Die Kultur
des Lebens heißt,“ sagte Johannes
Paul II. vor zehn Jahren zu den Ju-
gendlichen in Denver, „Gott jeden
Tag für das Geschenk des Lebens zu
danken, für unseren Wert und für
unsere Würde als menschliche We-
sen, für die Freundschaft, die er uns
anbietet auf dem Pilgerweg zu un-
serem ewigen Ziel.“
Dieser Weg der Freundschaft be-
gann in Bethlehem, er hat endlos
viele Stationen auf dieser Welt, aber
nur ein Ziel: die Versöhnung mit Gott
und den Menschen. Weihnachten ist
ein Familienfest, sagt der Volks-
mund. Vielleicht liegt das daran, dass
die Freundschaft in der Familie ihr
erstes Zuhause hat – mit den Nächs-
ten und mit Gott selbst.
§
Auch das gehört zu Weihnachten:
Die Muttergottes in Erwartung ihres Kindes (aus
einer Kirche in Chile) und die erschöpfte Familie
auf der Flucht (aus einer Kirche in den USA).
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350
DER FELS 12/2003
Eine Riesenüberraschung
Erinnern Sie sich noch, als heute
vor 25 Jahren aus Rom die Meldung
kam, dass der damals fast unbe-
kannte polnische Kardinal Karol
Wojtyla als Papst Johannes Paul II.
aus dem Konklave hervorging? Es
war eine Sensation! Nach 455 Jah-
ren der erste Nichtitaliener, und noch
Ein Geschenk Gottes zur rechten Zeit
Zum 25. Jahrestag der Wahl Johannes’Pauls II. zum Papst
Von P. Franz Schaumann SDB
dazu aus einem kommu-
nistischen Land! Er sag-
te von sich selbst, er
komme „aus einem fer-
nen Land“. Nicht weni-
ge fragten sich: Wie wird
das wohl werden? Heu-
te, nach 25 Jahren, kön-
nen wir mit Staunen und
dankbar fest-
stellen: Dieser
Papst war eine
Überraschung
des Heiligen
Geistes, ein
Geschenk für
die Kirche und
die
ganze
Welt.
Mit seinem
Namen „Jo-
hannes Paul
II.“ erinnerte er an sei-
nen Vorgänger, der nur
33 Tage Papst war und
durch seine Liebenswür-
digkeit in Kürze die Her-
zen vieler Menschen ge-
wonnen hatte. Dessen
Programm wollte er mit
diesem Doppelnamen
fortsetzen. Der Evan-
gelist Johannes spricht
immer wieder vom
„neuen Gebot“ Jesu
Christi: „Liebt einander
so, wie ich euch geliebt habe.“ Der
Apostel Paulus war der erste und
größte Missionar, der die Botschaft
Jesu von der Liebe Gottes zunächst
zu den Juden, dann zu den Heiden
und schließlich zu allen Menschen
brachte. So wundert es nicht, dass
der neue Papst in seiner Predigt bei
der Amtsübernahme den Gläubigen
auf dem Petersplatz und der ganzen
Menschheit zurief: „Habt keine
Angst! Öffnet, ja reißt die Tore auf
für Christus!“
Wurzeln und Erfahrungen
Wer ist dieser Karol Wojtyla? Wo-
her kommt er und wie ist er der
Mensch und Priester geworden, wie
wir ihn bis heute kennen? Karol
Wojtyla stammt aus dem kleinen Ort
Wadowice bei Krakau. Mit acht Jah-
ren hat er seine Mutter verloren. Bei
seinem Vater wuchs er zusammen
mit einem Bruder auf. In seiner Ju-
gend lernte er die Unterdrückung
durch die Nazis kennen. Er musste
immer wieder erleben, wie polni-
sche und jüdische Freunde über
Nacht verschwanden. Das KZ
Auschwitz war nicht weit entfernt.
Er selbst wurde vor die Wahl ge-
stellt: entweder Arbeit im Steinbruch
oder Zwangsarbeit in Deutschland.
Er wählte den Steinbruch, um in der
Heimat und in der Nähe des Vaters
bleiben zu können. Nach dem Nazi-
regime folgte die Unterdrückung
durch die Kommunisten. Gern wäre
er Schauspieler geworden, aber es
reifte in ihm die Überzeugung, dass
er den Menschen als Priester besser
helfen könne. In einem geheimen
Priesterseminar musste er sein Stu-
dium absolvieren.
Die leidvollen Erfahrungen mit
jenen gottlosen, menschenver-
achtenden und verlogenen Syste-
men des Nationalsozialismus und
Kommunismus haben ihn für sein
ganzes Leben geprägt. So wurde er
sensibel für jedes Unrecht und nennt
es beim Namen. Darum spielen die
Würde und Rechte der menschli-
chen Person in seinem philosophi-
schen Denken eine ebenso große
Rolle wie der Begriff der Wahrheit.
Bis heute tritt er ein für das Lebens-
recht eines jeden Menschen, ange-
fangen vom Ungeborenen bis zum
Sterbenden. Wenn er etwas hasst,
dann ist es die Lüge, die Feindin der
D
er hier abgedruckte Text ist die An-
sprache von Pfarrer P. Franz Schau-
mann am 16. Oktober 2003 in der Kir-
che Maria Himmelfahrt, Kaufering. Don
Boscos Treue zu Kirche und Papst ist für
Pater Schaumann Vorbild und Maßstab
seines Wirkens.
P
ater Fanz Schaumann
SDB, Jahrgang 1940, trat
1958 in das Noviziat der Sale-
sianer Don Boscos in Endorf/
Oberpfalz ein.
Nach dem Studium der Philo-
sophie und Theologie in Bene-
diktbeuern wurde er 1968 zum
Priester geweiht. Danach war er
bis 1971 Jugendseelsorger und
Heimerzieher in Furtwangen/
Schwarzwald. Anschließend
war Pater Schaumann bis 1981 in der Ju-
gend- und Erwachsenenbildung im Akti-
onszentrum der Salesianer Don Boscos
Bendiktbeuern tätig. Von 1982 bis 1999
war Pater Schaumann Pfarrer von Don
Bosco in Augsburg, seitdem ist er Pfarrer
von Maria Himmelfahrt in Kaufering.
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DER FELS 12/2003
351
Wahrheit. Die unbestechliche Wahr-
heit ist für ihn begründet in der
Person und im Evangelium Jesu
Christi.
Pastoral für Kirche und Welt
In einem deutschen Fernsehsen-
der wurden in diesen Tagen die Zu-
schauer gefragt, ob sie Papst
Johannes Paul II. für einen Funda-
mentalisten halten oder nicht. Das
überraschende Ergebnis war: 78
Prozent verneinten dies. Offensicht-
lich dämmert es vielen, dass dieser
Papst einer der wenigen in dieser
Welt ist, der noch klare Orientierung
darüber gibt, was den Menschen
hilft oder schadet, mag dies gefal-
len oder nicht. Darum lieben ihn die
Armen und Kleinen, darum hassen
ihn alle, die die Menschen für ihre
Zwecke und Interessen missbrau-
chen. Mit seinem ersten Besuch in
seiner polnischen Heimat im Juni
1979 hat er die Wende im Ostblock
eingeleitet. Die Menschen haben
seinen Aufruf verstanden: „Verän-
dert das Gesicht der Welt!“
Das Attentat am 13. Mai 1981 war
zu befürchten. Der Gottesmutter
Maria schreibt er es zu, dass er mit
dem Leben davon gekommen ist.
Offenbar war seine Sendung noch
nicht erfüllt. Dem ferngesteuerten
Attentäter hat Johannes Paul II.
bereits auf dem Krankenbett und
später bei einem Besuch im Gefäng-
nis von Herzen verziehen. Dabei
spricht er von dem „Bruder, der
mich getroffen hat“. Diese Geste
lässt seinen Herzenswunsch erken-
nen: die Zivilisation des Todes
durch die Zivilisation der Liebe zu
überwinden. Dabei ist ihm jeder
willkommen, gleich welcher Reli-
gion oder Nation, der diese Absicht
aufrichtig mit ihm teilt.
Seine 102 Pastoralreisen galten
allen Menschen guten Willens. Nie-
mand müht sich so sehr um echten
Frieden in der Welt wie er. Keiner
tut mehr für die Einheit aller Chris-
ten, ohne freilich die Gebote Got-
tes aufzuweichen oder etwas vom
reichen Glaubensgut der katholi-
schen Kirche aufzugeben. Er hat als
erster Papst in Rom die evangeli-
schen Christen aufgesucht. Er be-
suchte auch die Synagoge der Ju-
den in Rom. Ein Jude sagte damals,
es habe lange Jahrhunderte gedau-
ert, bis ein Papst diese kurze Stre-
cke von einem Kilometer zurück-
gelegt habe. Welch großartiges Zei-
chen hat er im Jahr 2000 mit sei-
nem Besuch in Israel gesetzt. Dort
ist ihm das diplomatische Meister-
stück gelungen, den jüdischen
Oberrabbiner und den moslemi-
schen Imam zusammenzubringen.
Bei dieser Reise besuchte erstmals
in der Kirchengeschichte ein Papst
die Omajjadenmoschee in Damas-
kus. Bei den zwei Treffen aller
Religionsführer in Assisi ging es ihm
nicht um die Gleichmacherei aller
Religionen, wie einige unterstellen,
sondern um die gemeinsame Ver-
antwortung aller Religionen für den
Frieden und das Wohl aller Men-
schen, und dass keine Religion zur
Legitimierung von Gewalt miss-
braucht werden darf.
Autorität und Freund der Jugend
Trotz körperlicher Schwäche ist
er die geistliche Autorität in der
Welt, die den Großen und Kleinen
mit Freimut sagt, was dem Leben
der Menschen dient oder schadet.
Nur staunen kann man, wie der
jetzt alte und gebrechliche Mann
auf dem Stuhl Petri immer wieder
sogar Millionen von jungen Men-
schen begeistert. Er hat im Jahr
1985 die Weltjugendtage eingeführt,
bei denen sich gläubige Jugendli-
che aus der ganzen Welt treffen und
einander im Glauben stärken.
Warum kommt der Papst so gut
bei ihnen an? Ich meine, sie glau-
ben ihm einfach, dass er nur ihr
Glück im Sinn hat, auch wenn er
sie davor warnt, ohne Gott und nur
für sich zu leben. Und er sagt es
ihnen, dass er auf sie zählt: „Ihr seid
die Hoffnung der Kirche!“
Was ist diesem Papst besonders
wichtig?
1. Das Geschenk des Lebens,
sowie Würde und Wert der mensch-
lichen Person.
2. Jesus Christus. Deshalb war
seine erste Enzyklika „Redemptor
hominis“ dem Erlöser des Men-
schen gewidmet. Jesus setzt an bei
der conditio humana, bei den Le-
bensbedingungen, den Fragen, Nö-
ten, Hoffnungen, Leiden und Freu-
den, die die Menschen bewegen.
Und er verkündet ihnen die heilen-
de Liebe Gottes und das befreien-
de Wort des Evangeliums.
3. Eine seiner Kraftquellen ist
das Gebet, besonders das Rosen-
kranzgebet.
4. Die Eucharistie. Wie wichtig
ihm selbst und für die ganze Kir-
che das Geschenk der Eucharistie
ist, legt er in seiner letzten Enzykli-
ka „Ecclesia de Eucharistia“ dar.
5. Nicht zu vergessen: Maria! Zur
Mutter Jesu hat er bereits von Kind-
heit an eine innige und vertrauens-
volle Beziehung. Im Wappen des
Papstes sehen wir ein großes M und
dabei die Worte: Totus tuus –
„Maria, ich bin ganz Dein“. Seit
dem Attentat verehrt er besonders
die Madonna von Fatima. In ihre
Krone ließ er die Kugel einfügen,
die ihn fast das Leben gekostet hät-
te. Und bei einem weiteren Besuch
in Fatima verehrte er Maria den
Ring, den ihm Kardinal Wyszynski
1978 nach der Wahl zum Papst mit
den Worten geschenkt hatte: „Du
wirst die Kirche ins dritte Jahrtau-
send führen.“
Was würde er sich zu seinem
Jubiläum wohl von uns wünschen?
Vielleicht würde er Dir und mir
sagen:
1. Sei gern Christ – dort, wo du
bist.
2. Liebe Christus, Maria und die
Menschen.
3. Gib Zeugnis davon, dass du

#121   ddddd25.07.2005 - 15:11
Eine kurze Geschichte der Zeit
The Shadow Of His Wings
The True Story Of Fr. Gereon Goldmann
A Shepherd In Combat Boots
Chaplain Emil Kapaun of the 1st
The Story Of A Family
The Home of St. Therese of Lisieux
Swimming with Scapulars
True Confessions of a Young Catholic
There Are No Accidents
In All Things Trust In God
To The Other Towns
The Life Of Blessed Peter Favre
Under Angel Wings
The True Story Of A Young Girl And Her
Under The Mercy
A Sequel To A Severe Mercy
With Life And Laughter
The Life Of Father Pro
Old Thunder
A Life Of Hilaire Belloc
Shepherd of Souls
A Pictorial Life of Pope Pius XII
Pierre Toussaint
Apostle of Old New York
Praxedes
Wife, Mother, Widow, Lay Dominican
ro-Life Christians
Heroes For The Pre-Born - 28 Corageous
Rebuilding a Lost Faith
By an American Agnostic
Journey Up The River
A Midwesterner\s Spiritual Pilgrimage
Leonie Martin
A Difficult Life
Life And Revelations Of Anne Catherine Emmerich
Life Is A Blessing
A Biography Of Jerome Lejeune
Man Of The Beatitudes
Pier Giorgio Frassati
The Miracle of Hope
Political Prisoner, Prophet of Peace
G. K. Chesterton
The Apostle Of Common Sense
God\s Call To Women
Twelve Spiritual Memoirs
A Heart For Europe
The Lives of Emperor Charles And

#120   http://www.catholicculture.org/lit/calendar/day.cfm?id=39321.07.2005 - 20:43
http://www.catholicculture.org/lit/calendar/day.cfm?id=393

#119   dddddd21.07.2005 - 20:28
ttp://www.catholictradition.org/saintly-quotes2.htm

#118   fffffff20.07.2005 - 18:27
www.nluu.blogspot.com/

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